Finnland aus der Ferne betrachtet

Was fällt Finnen auf, wenn sie Finnland aus der Distanz betrachten, und mit welchen Meinungen besuchen sie andere Länder? Wir haben fünf finnische Journalisten gefragt, die über umfassende Arbeitserfahrung im Ausland verfügen.

Wie sehen Sie Finnland, wenn Sie Ihre Insiderkenntnisse mit dem im Ausland gewonnenen Blickwinkel verbinden?

Fünf finnische Reporter erzählen uns, was sie aus den Ländern, in denen sie gelebt und gearbeitet haben, nach Finnland mitnehmen und was sie aus Finnland dorthin bringen würden. Und damit meinen wir nicht finnisches Roggenbrot. Wir wollen, dass sie das Gespräch auf eine neue Ebene bringen. Ihre Geschichten sind unterhaltsam und aufschlussreich.

Natürliche Freundlichkeit

Paula Vilén arbeitet in Washington, DC als USA-Korrespondentin für die finnische Rundfunkanstalt Yle.

Paula Vilén bereitet sich in der Pressekabine der UN-Vollversammlung in New York auf eine Radio-Live-Schaltung vor.Foto mit freundlicher Genehmigung von Paula Vilén

Auf jeden Fall werde ich aus den USA die natürliche Freundlichkeit der Amerikaner mit nach Finnland nehmen. Das Leben ist so viel angenehmer, wenn man an der Bushaltestelle mit einem Lächeln begrüßt wird und dort oder in der Cafeteria mit wildfremden Menschen ins Gespräch kommt. Natürlich macht dies die USA für Journalisten, die mit möglichst vielen Amerikanern über alles Mögliche reden wollen, zu einem Paradies.

Die amerikanische DNA enthält die Fähigkeit, alltägliche Begegnungen einfach und angenehm zu gestalten. Sie benutzen häufig die Worte „Hallo“, „Danke“, und „Entschuldigung“, und sie haben die besondere Fähigkeit oder das Gen, sich an deinen Namen zu erinnern und ihn im Gespräch zu verwenden. Das gibt einem das Gefühl, besonders und willkommen zu sein. Manche mögen dies als oberflächlich abtun, aber selbst wenn es so wäre, so ist mir das immer noch lieber als ernste Gleichgültigkeit.

Das beste Geschenk, das Finnland den USA machen kann, ist zweifellos die Fähigkeit, Dinge effizient und organisiert zu erledigen. Einem Finnen fällt es schwer zu verstehen, warum etwas so Einfaches, wie die Anmeldung des Autos derart viel Zeit und Bürokratie verlangen kann. In Finnland würde man das wahrscheinlich einfach online machen und schon wäre es erledigt.

Und allen amerikanischen Frauen und Familien würde ich wünschen, dass die USA beim Mutterschaftsurlaub und der Elternzeit eher dem Beispiel Finnlands folgen würden. Amerikanischen Frauen fällt die Kinnlade herunter, wenn ich ihnen von Finnlands großzügigem Mutterschaftsurlaub berichte. Die amerikanische Gesellschaft hält die Familie in Ehren und liebt Kinder, aber dass sie die Bedürfnisse von Familien nicht besser berücksichtigt, schafft eine seltsame Diskrepanz. Soll man tatsächlich Kranken- und Urlaubstage nutzen, um zu Hause bei dem neugeborenen Baby sein zu können? Wirklich?

Unterschiedliche Fähigkeiten

Heidi Lipsanen arbeitete in Brasilien zu zwei verschiedenen Anlässen als Korrespondentin der finnischen Rundfunkanstalt Yle und ist seit den 1990er Jahren regelmäßig nach Brasilien gereist.

Eröffnungsfeier: In Brasilien berichtete Heidi Lipsanen für die finnische Rundfunkanstalt Yle über die Fußball-WM 2014 und die Ereignisse rund um die WM.Foto mit freundlicher Genehmigung von Heidi Lipsanen

Die Brasilianer sind großartige Diplomaten mit angeborenen sozialen Fähigkeiten – Meister des Eisbrechens und der Konfliktvermeidung. Kreativ schlängeln sie sich durch herausfordernde Situationen, indem sie immer „einen Weg finden“, wie die Brasilianer sagen.

Das portugiesische Wort, das sie dafür verwenden, ist jeito oder „Weg“ und wird auch in der diminutiven Form jeitinho genutzt. Diese Eigenschaft ist sowohl attraktiv als auch gefährlich.

Attraktiv, weil der Glaube daran, eine Lösung zu finden, die Brasilianer zu unerschütterlichen Optimisten macht. Trotz ihrer ausgeprägten, aber humorvollen Selbstironie kommt man mit ihnen schnell ins Gespräch.

Gefährlich, weil diese Einstellung schnell zum Nährboden für Bestechung wird.

In letzter Zeit ist Brasilien öfter mit Korruption als mit dem wunderbaren Optimismus seiner Menschen in Verbindung gebracht worden. Letztere Eigenschaft könnte uns recht ernsten Finnen aber leichter machen, die Welt als einen fröhlicheren Ort zu sehen. Optimismus fördert Kreativität und garantiert Erfolg in sozialen Situationen. Dies könnte helfen, die finnische Neigung zur Unflexibilität abzubauen.

Zum Glück ist die positive Einstellung der Brasilianer ansteckend. Wenn ich aus Brasilien nach Hause zurückkehre, hält diese Einstellung eine Weile vor, bis der Winter dann eine leichte Melancholie erzeugt. Allerdings kann sich diese Versonnenheit während des kalten finnischen Winters auch ganz behaglich anfühlen.

Zurück in Brasilien gibt es manchmal Momente, in denen ich mit großer Wehmut an die finnische Lebensweise denke. Ein solcher Moment ist das Überqueren der Straße. Die Freundlichkeit, die einem die finnischen Autofahrer entgegenbringen, fehlt in Brasilien.

Eine Finnin, die zur selben Zeit wie ich in Brasilien lebte, analysierte die brasilianische Kultur einmal anhand des brasilianischen Fahrstils und zog einige interessante Schlussfolgerungen. Brasilianer sind solange freundlich, wie sie einer Person von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Hinter der Windschutzscheibe oder am Telefon verlieren sie ihre sozialen Fähigkeiten, behauptete sie.

Ein wenig finnische Geduld und etwas Verantwortungsgefühl würde den Fußgängern das Leben angenehmer machen und dazu beitragen, in dem Land, in dem das Auto König ist, die zahllosen Verkehrsunfälle zu verringern.

Lebenslinien

Katriina Pajari arbeitet in Peking als China- und Asien-Korrespondentin für Helsingin Sanomat, Finnlands auflagenstärkste Tageszeitung.

Katriina Pajari in Shanghai.Foto mit freundlicher Genehmigung von Katriina Pajari

Dieser Gedanke kommt mir fast jeden Tag: Wenn die Chinesen sich bloß auch so wie die Finnen in einer Schlange anstellen könnten.

Natürlich übertreibe ich ein wenig. Es gibt in China Menschen, die wissen, wie man eine Schlange bildet und in Finnland gibt es Menschen, die es nicht wissen. Aber ich könnte wohl reich werden, wenn ich die Fähigkeit Schlange zu stehen, in China importieren und kommerzialisieren könnte.

Es geht nicht nur um das Schlange stehen. Wir Finnen scheinen eine gewisse Ordnungsliebe einprogrammiert zu haben. Die Chinesen sind, so scheint es, das absolute Gegenteil.

In China gilt das Recht des Stärkeren, egal, ob man in der Bank, am Obststand, der Toilette oder der Sicherheitskontrolle im Flughafen ansteht. Wenn sich auch nur irgendeine Lücke auftut, die in Finnland nicht einmal als solche angesehen würde, werden mehrere Personen versuchen dort hineinzuschlüpfen.

In einem finnischen Schwimmbad schwimmen die Badegäste auf der rechten Seite der Bahn. Hier in China schwimmt jemand rechts, jemand anderes links, der nächste kreuzt die Bahnen und eine Person lässt sich einfach in der Mitte treiben.

Als ich einmal zur Bank ging, stand ich früh genug auf, um nicht in der Schlange stehen zu müssen. Ich war die erste an der Tür, aber als ich meine Nummer zog, hatten mich die Einheimischen bereits überlistet und ich bekam die Nummer 17. Ich weiß wirklich nicht, wie das passieren konnte.

Ich glaube nicht, dass es die Menschen böse meinen, wenn sie sich vordrängeln. Ich glaube nicht einmal, dass ihnen bewusst ist, dass sie es tun. Sie sind einfach daran gewöhnt, mit einer gewaltigen Anzahl von Menschen zu tun zu haben, so dass sie beharrlich sein und ihre Interessen wahren müssen.

Aber die Finnen könnten von den Chinesen lernen, wie man in einer Menschenmenge ruhig bleibt, ohne klaustrophobisch zu werden. Oder wie man in einem Park tanzt, auf einem geparkten Moped schläft oder ein Gespräch mit dem Kind von jemandem beginnt. Dies sind die Dinge, die ich an China liebe.

Spontaneität ist nicht so einfach

Iida Tikka arbeitet als Auslandsreporterin für die finnische Rundfunkanstalt Yle.

Kehrt immer wieder nach Russland zurück: Iida Tikka berichtete Anfang 2017 über den Besuch des finnischen Präsidenten Sauli Niinistö beim Arktischen Forum in Archangelsk, Russland.Foto mit freundlicher Genehmigung von Iida Tikka

In den letzten vier Jahren habe ich wiederholt in Russland gelebt. Zuerst während des Studiums, dann als Journalistin. Jedesmal wenn ich wegziehe, komme ich doch wieder zurück, auch wenn das Leben in Russland nicht immer tak prosto (so einfach) ist, insbesondere für Journalisten. Es bedeutet Kampf mit Bürokraten, zu lernen, rasch alle Pläne umzuwerfen, wenn sich ein Hindernis auftut und zu lernen, tagelang mit wenig oder ohne Schlaf auszukommen.

Trotzdem zieht mich Russland immer wieder an.

Der Grund ist ganz einfach: Russland atmet eine Spontaneität, die Finnland nicht bietet. In Russland kann man nicht wissen, was der Tag bringen wird. Man könnte in der Küche eines Fremden landen und mit einer zusammengewürfelten Gruppe über die Kulturpolitik der Sowjetunion diskutieren oder außerhalb der Stadt in der Sauna der Hütte der Großeltern eines Freundes – alles ist möglich.

Gerne würde ich aus Russland die alltägliche Spontaneität nach Finnland bringen, in ein Land, in dem einige meiner Freunde vorschlagen, Doodle (eine App, um ein Termine für ein Meeting zu finden) für die Verabredung zu einer Tasse Kaffee zu verwenden.

Ironischerweise besitzt Finnland genau das, was Russland fehlt, nämlich die Fähigkeit zu planen. Dies wirkt sich auf alles aus, unter anderem auf den Bau von Städten. Ich habe in Russland Städte gesehen, in denen die Vororte weit weg gebaut wurden und es keinen Plan für die Anbindung an die Stadt gab. Und ich will gar nicht erst anfangen, mich über die Treppen in vielen Gebäuden auszulassen, in denen sich etwas so Einfaches wie der Bau einer Treppe mit gleichmäßigen Stufen als scheinbar unüberwindbare Herausforderung herausgestellt hat. Mit etwas Planung hätten viele dieser Infrastrukturprobleme gelöst werden können.

Ich würde daher auf jeden Fall die finnische Vorgehensweise, in der alles von Anfang bis Ende gut geplant ist, von Finnland nach Russland bringen.

DIY-Kreativität

Heidi Liekola ist Reporterin und Redakteurin (TV, Internet, Soziale Medien) beim öffentlichen schwedischen Rundfunk in Stockholm.

Die Kamera ist eingerichtet: Heidi Liekola ist bereit für die Aufnahme.Foto mit freundlicher Genehmigung von Heidi Liekola

Ich bin vor 20 Jahren von Finnland nach Schweden gezogen, zum geliebten und gleichzeitig unerträglichen Nachbarn. Auf den ersten Blick ähneln sich Schweden und Finnland sehr. Aber nach einiger Zeit beginnt man Dinge zu vermissen, die man nicht auf dem einstündigen Flug oder der Übernachtfahrt mit der Fähre von Finnland nach Schweden mitnehmen kann.

Eines davon ist die finnische Do-it-yourself-Mentalität. Für mich bedeutet das, Kreativität kombiniert mit Tradition und sozialem Kontext. Es ist ganz einfach – man kümmert sich um seine Sachen, anstatt neue anzuschaffen oder sich die neuesten Dinge zu kaufen, nur weil alle anderen sie auch haben.

Beim finnischen DIY geht es auch darum, zu sein, wie man wirklich ist. Es ist Individualität. Es ist der Mut, dem eigenen Weg zu folgen. Es ist auch etwas Schrulligkeit. Wer sonst als ein Finne könnte die Idee haben, einen eigenen salmiakki Lakritz-Vodka herzustellen? Es bedeutet, fantastische Dinge zu vollbringen, ohne viel Wirbel darum zu machen.

Allerdings sollten die Finnen ruhig viel Wirbel machen, darum und um sich selbst. Und langsam geschieht das auch. Aber Finnland könnte sich durchaus überlegen, die schwedische Mentalität der Zusammenarbeit zu importieren, um erfolgreich zu sein.

Als in Stockholm der Sauerteig-Trend auf seinem Höhepunkt war und überall Bäckereien aus dem Boden schossen, kam eine dieser Bäckereien auf die Idee, ein Sauerteig-Hotel für Hobbybäcker anzubieten. Die Medien griffen die Nachricht auf: Während des Urlaubs konnten die Kunden ihren Sauerteig dort lagern und die Bäckerei freute sich über die Werbung. Erfolg führt zu mehr Erfolg, und die Schweden arbeiten zusammen, um erfolgreich zu sein.

Hier ein Vorschlag: Das Rezept, um die finnischen DIY-Ideen nach vorne zu bringen – und vergessen Sie nicht, wo Sie das zum ersten Mal gelesen haben – könnte sein, einen Schweden anzuheuern, der diese Ideen auf Erfolgskurs bringt.

Dezember 2017