Die Finnen verzehren leidenschaftlich gern Roggenbrot. Das war schon immer so. Ihre Begeisterung für dieses Grundnahrungsmittel ist so groß, dass sie es sogar mit sich auf Auslandsreisen nehmen.
Im Sommer fahren die Finnen an den Wochenenden und in ihrem Urlaub en mass in ihre Sommerhäuser. Die Folge davon ist, dass die ländlichen Gemeinden in den wärmeren Monaten im ganzen Land eine doppelt so hohe Einwohnerzahl haben wie sonst. Die temporäre Migration kurbelt die regionale Wirtschaft erheblich an.
Die Stadtmenschen haben es dabei vor allem auf ein Produkt abgesehen, dem sie während ihres vorübergehenden Aufenthalts eifrig nachjagen, weil es anderswo in den Ladenregalen nicht zu finden ist.
„Die Leute haben tatsächlich ein starkes Verlangen nach lokalen Roggenbroten“, sagt Dr. Johanna Mäkelä, Professorin für Ernährungskultur an der Universität Helsinki. „Ich würde vermuten, dass einige lokale Bäckereien nur überleben, weil sie im Sommer backen.“
Historische Gaumenfreude
Die Vorliebe für Roggenbrot ist nicht verwunderlich. Roggen wurde bereits vor mehr als 2000 Jahren in Finnland angebaut, und Roggenbrot war lange Zeit eines der Grundnahrungsmittel der einheimischen Küche, da Roggengetreide die Fähigkeit besitzt, sich an unterschiedliche Bodenbedingungen anzupassen und im kurzen nordischen Sommer zu reifen.
„Das finnische Roggenbrot ist die Geschichte eines armen Landes, denn es gab so wenige Zutaten, die immer zur Verfügung standen,“ erzählt Johanna Mäkelä. „Wasser, Sauerteig, Salz und Roggenmehl: Das ist immer noch das Grundrezept. Manchmal fügt man auch Hefe hinzu.“
Ob das runde „limppu“-Brot, das ursprünglich in den östlichen Landesteilen gebacken wurde, oder das im Westen übliche runde Flachbrot mit Loch, „reikäleipä“ genannt, Finnlands herzhaftes Roggenbrot ist deutlich leichter als die deutschen und baltischen Sorten. Es ist auch wesentlich weniger süß als das schwedische Roggenbrot. Allgemein wird es als belegte Stulle verzehrt, in die Suppe gestippt oder einfach so mit etwas Butter obendrauf genossen.
Wie man es auch dreht und wendet, und in welcher Form es auch daherkommt, die Bindung der Finnen an ihr Roggenbrot kann nicht genug betont werden.
„Wenn Menschen aus einem anderen Teil von Finnland kommen und nach Helsinki ziehen, sehnen sie sich nach der Brotsorte, die sie in ihrer Kindheit gegessen haben“, sagt Mäkelä. „Man kann auch fast jeden Finnen fragen, der ins Ausland reist, um Landsleute zu besuchen, was er mitnimmt. Es sind immer zwei Dinge: Roggenbrot und Fazers Blaue Schokolade.“
Das begehrte Brot ist sogar auf dem Helsinkier Flughafen zu haben, weil die Nachfrage so groß ist. Hier können Reisende es noch in letzter Minute als Geschenk für ihre Freunde und Familie kaufen oder sicherzustellen, dass sie genug Brot mit sich haben, wenn sie einige Zeit außerhalb des Landes verbringen.
Voller Kraft und Gesundheit
Das allgegenwärtige Roggenbrot hat sich im Laufe der Zeiten tief in die finnische Kultur verankert. Es wird im Nationalepos „Kalevala“ erwähnt und sticht auch in Gemälden und Sprüchen aus früheren Zeiten ins Auge.
Bauern beherzigten einst den Rat, dass der Verzehr von Roggen den Handgelenken, wenn hart gearbeitet werden musste, Kraft verleiht. Man sagte dem Getreide auch nach, dass es der Kraftstoff für Zugpferde sei. Heute sind diese Überzeugungen wissenschaftlichen Erkenntnissen gewichen, die die diversen gesundheitlichen Vorteile des Roggens bekräftigen.
„Roggen hat einen sehr hohen Fasergehalt“, erklärt Kaisa Poutanen, Forschungsprofessorin von Finnlands Technischem Forschungszentrum (VTT). „Die Ballaststoffe sind zwar hauptsächlich in den äußeren Schichten der Körner konzentriert, sind aber auch in den inneren Teilen des Getreides vorhanden.“
Der hohe Fasergehalt unterstützt die Darmgesundheit der Verbraucher auf direkte Weise. Noch dazu trägt das Getreide auch zum Schutz vor Diabetes bei.
„Wenn wir Roggenbrot essen, brauchen wir weniger Insulin, um den Blutzucker unter Kontrolle zu halten“, so Poutanen. „Zudem sind kardiovaskuläre Erkrankungen stark mit Diabetes verbunden, d.h. wenn es gegen das eine schützt, schützt es auch gegen das andere.“
Und noch ein Vorteil: Die sättigende Wirkung von Roggenbrot wird in weiten Kreisen als Bestandteil des Gewichtsmanagements wertgeschätzt.
Die Forschung entdeckt fortwährend neue Nutzen für die Gesundheit im Roggenbrot, und die Anzahl seiner angebotenen Sorten wächst ständig. Man kann also sicher sein, dass die Ladenregale im ganzen Land auch in den kommenden Jahren mit dem nationalen Brot bestückt werden.
„Wir Finnen essen Roggenbrot, um uns und unseren Körper zu stärken, aber es ist auch ein Teil unserer kulturellen Identität“, stellt Mäkelä fest. „Wir bewahren es in unserem Herz auf, aber es kommt auch immer noch auf unseren Tisch.“
„Es stellt eine lebendige Tradition dar.“
Das Aufgehen des Sauerteigs
Der spezielle Sauerteig, das Anstellgut oder der Starter zum Backen des finnischen Roggenbrots nennt sich auf Finnisch „leivän juuri“, „die Wurzel des Brotes“.
„Zahlreiche Haushalte haben immer noch ihren eigenen Starter-Sauerteig, der von Generation zu Generation weitergegeben worden ist“, sagt Kaisa Poutanen von VTT. „Dort, wo ich lebe, in Kuopio, besitzt eine Dame ein Anstellgut, das über 50 Jahre alt ist. Sie hat es von ihrer Schwiegermutter bekommen. Sie bäckt immer noch jede Woche mit ihm.“
Der Trick beim Aufheben des Sauerteigs ist sicherzustellen, dass ein Teil des Brotteigs beim Backen übrig bleibt, der dann entweder getrocknet oder eingefroren werden kann. Das nächste Mal, muss man nur ein wenig Wasser hinzufügen und die Bakterien beginnen sich weiterzuentwickeln. Und so geht der Zyklus weiter und gewährleistet durch die Zeiten hindurch schmackhaftes Brot.
Von James O’Sullivan, Juli 2016