Preisgekrönter finnischer Film erzählt von einer Zugreise nach Nordrussland

Regisseur Juho Kuosmanen berichtet uns von dem Abenteuer, ein ungewöhnliches Roadmovie zu drehen, das in Cannes mit dem Grand Prix ausgezeichnet wurde.

Auf einer Party in einer Moskauer Wohnung spielt eine Gruppe von Intellektuellen ein Gesellschaftsspiel, bei dem ein Zitat seinem Autor zugeordnet werden muss. Der Gastgeber wendet sich an eine junge Finnin, die eindeutig überfordert ist, und fragt, wer gesagt hat: „Nur Teile von uns werden jemals die Teile von anderen berühren.”

Es ist eine Fangfrage, die Laura (Seidi Haarla) dazu zwingen soll, zur Belustigung der Gruppe sich um eine hochtrabende literarische Erwiderung zu bemühen, obwohl die richtige Antwort Marilyn Monroe lautet.

So beginnt Abteil Nr. 6, ein gefeiertes finnisches Roadmovie über Selbstfindung durch eine außergewöhnliche Freundschaft.

Neufindung

Mit geschlossenen Augen lässt eine Frau ihr Haar an einem offenen Zugfenster im Wind wehen.

Laura durchlebt im Laufe ihrer Reise eine ganze Bandbreite von Gefühlen.
Foto: Sami Kuokkanen/Aamu Film Company

Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Rosa Liksom aus dem Jahr 2011 ist dies der am höchsten ausgezeichnete finnische Film seit Aki Kaurismäkis Der Mann ohne Vergangenheit, der 2002 den Grand Prix in Cannes gewann. Abteil Nr. 6 teilt sich 2021 den Grand Prix mit A Hero des iranischen Regisseurs Asghar Farhadi und ist der finnische Beitrag für den besten internationalen Spielfilm bei den Academy Awards 2022.

Laura, die beschlossen hat, sich als Archäologiestudentin neu zu orientieren, steigt im Winter in einen Zug in das jenseits des Polarkreises gelegene Murmansk, um am Kanozero-See mehrere alte Felszeichnungen, die Petroglyphen, zu besichtigen. Ihr rüpelhafter Mitreisender ist Ljoha (Yuri Borisov), ein russischer Bergarbeiter, dessen grobes Verhalten sie sofort abstößt. Dennoch bleibt sie mit ihm auf der über 1 600 Kilometer langen Fahrt durch die düstere russische Landschaft in dem engen Abteil zusammengepfercht.

Menschliches Miteinander

Eine Frau und ein Mann öffnen die Türen eines Autos.

Nachdem er ein Auto kurzgeschlossen hat, fragt Ljoha Laura: „Hältst du mich für einen Bösewicht?“
Foto: Sami Kuokkanen/Aamu Film Company

Mit Liksoms Zustimmung änderte Regisseur Juho Kuosmanen für den Film das Jahrzehnt, das Land und die Route. Während der Roman die Figuren von Moskau bis in die Mongolei durch die Sowjetunion der 1980er Jahre führt, hat Kuosmanen genügend kulturelle Bezüge eingebaut, um deutlich zu machen, dass der Film im Russland der 1990er Jahre spielt – nicht, dass Zeit und Ort in einem Film, der von zwei starken Hauptdarstellern, die eine intensive platonische Beziehung führen, getragen wird, wirklich von Bedeutung wären.

Um den Zuschauer in das klaustrophobische Zugabteil zu versetzen, hat Kuosmanen sich nach eigenen Angaben von dem Oscar-nominierten deutschen U-Boot-Kriegsfilm Das Boot von 1981 inspirieren lassen. Regisseur Wolfgang Petersen ließ für die Dreharbeiten keine physischen Barrieren im Inneren des U-Boots entfernen. Genauso ging auch Kuosmanen in dem von der Russischen Eisenbahn gemieteten Zug vor, als dieser durch Sankt Petersburg rumpelte, während er mit einer handgeführten 35-Millimeter-Kamera filmte. Die Nahaufnahmen sind intim und zutiefst menschlich, wenn Laura und Ljoha lernen, auf engstem Raum, ohne Komfort und Annehmlichkeiten, zusammenzuleben.

Authentizität und Gefühl

Eine ältere und eine jüngere Frau sitzen an einem Küchentisch und trinken, rauchen und reden.

Während eines Zwischenstopps besuchen Laura und Ljoha eine ältere Frau, die ihnen Ratschläge für das Leben und starke Getränke gibt.
Foto: Sami Kuokkanen/Aamu Film Company

Das düstere Ambiente des Films erinnert an andere erfolgreiche osteuropäische Filme wie Taxi Blues, Lilja 4-Ever und 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage. Aber er ist nicht abgekupfert. Kuosmanen bleibt originell und fügt einen Hauch von Authentizität hinzu, indem er bei einem Zwischenstopp des Zugs eine ältere weibliche Figur (Lidia Kostina) einführt. Sie ist keine professionelle Schauspielerin, und ihre improvisierten Sätze fördern nicht nur Lauras persönliche Entwicklung, sondern lassen auch Ljoha zum ersten Mal sympathisch wirken.

Kuosmanen sagt, inspiriert habe ihn der brasilianische Regisseur Karim Aïnouz mit seinem Film The Invisible Life of Eurídice Gusmão (Das unsichtbare Leben der Eurídice Gusmão) aus dem Jahr 2019, der im selben Jahr in Cannes den Hauptpreis in der Kategorie Un Certain Regard gewann (Kuosmanen erhielt den gleichen Preis 2016 für Der glücklichste Tag im Leben des Olli Mäki). Aïnouz‘ Erzählung über zwei gegen das Patriarchat kämpfende Schwestern, „hat mich umgehauen, als ich sie sah“, sagt Kuosmanen. „Mein Film ist keine Liebesgeschichte, aber ich wollte, dass er von starken Gefühlen geprägt ist. Sein Film hat mich in diese Richtung gebracht.“

Schwierige Bedingungen

Eine Frau schaut aus einem Zugfenster.

Auf der langen Zugfahrt nach Norden gibt es viel Zeit zum Nachdenken.
Foto: Sami Kuokkanen/Aamu Film Company

Die Dreharbeiten fanden kurz vor Inkrafttreten der Covid-19-Beschränkungen in Russland statt. Kuosmanen war sogar gezwungen, die Szene in der Wohnung in St. Petersburg zu drehen, nachdem die Corona-Beschränkungen in Moskau bereits in Kraft getreten waren.

„Filmemachen ist stets voller interessanter Herausforderungen“, sagt Kuosmanen. „Es ist immer ein Abenteuer, und besonders bei diesem Film, denn es geht hier um eine Reise. Wenn wir das in einer kontrollierten Umgebung gedreht hätten, wäre es für die Stimmung des Films nicht gut gewesen. Wir wollten einfach in den Zug steigen und sehen, was passiert.“

Der Besuch eines extrem nördlich gelegenen Ortes im Winter ist für Laura schwierig. Auf die Dreharbeiten wirkte sich das auch aus; der Winter in Murmansk hatte sogar einen unerwarteten Vorteil.

„Wir hatten Pläne, aber Pläne sind eben nur Pläne“, sagt Kuosmanen. „Normalerweise hat man Glück, wenn man die Kontrolle abgibt und sich vom Leben überraschen lässt. Am Ende hatten wir diesen unglaublichen Schneesturm, den wir nicht eingeplant hatten. Er machte unsere Pläne zunichte, aber was wir bekamen, war viel besser.“

Ein Geschenk von Kaurismäki

Sehen Sie sich den Trailer von Abteil Nr. 6 an (sofern verfügbar).

Kaurismäki, Finnlands berühmtester Regisseur, war von Kuosmanens neuestem Werk so angetan, dass er ihm einen in der Sowjetunion gebauten Wolga aus dem Jahr 1962 schenkte. Kaurismäki hat Abteil Nr. 6 auch in seinem neuen Kino Laika uraufgeführt. Das Kino ist in einer ehemaligen Emaille-Fabrik in Karkkila, etwa eine Autostunde nordwestlich von Helsinki, untergebracht.

Das Auto steht noch immer in Kaurismäkis Garage und wartet darauf lackiert zu werden, aber Kuosmanens Film hat den neuen James-Bond-Film bei seiner ersten Vorführung im Kino Laika weit in den Schatten gestellt.

Von Michael Hunt, November 2021