2014 wurde der 75. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs begangen. Für Finnland bedeutete das die Erinnerung an den Ausbruch des Winterkriegs. Der junge finnische Historiker Antero Holmila erzählt uns, wie man heute über die damaligen Ereignisse denkt.
„Krieg in Finnland?“ Ja – so war am 29. November 1939 der Leitartikel der New York Times überschrieben. Einen Tag darauf begann die Sowjetunion eine massive Offensive gegen Finnland. Zum Erstaunen der Weltöffentlichkeit zogen sich die Kämpfe über 105 Tage hin, und Finnland konnte seine Selbständigkeit behaupten, wenngleich es rund 9 Prozent seines Territoriums und 20 Prozent seiner industriellen Kapazitäten an die Sowjetunion abtreten musste.
Wie auch anderswo, haben die Folgen des weltweiten Konflikts die Nation geprägt. „Wenn immer man über das finnische Selbstverständnis spricht, kommt die Rede auch auf den Winterkrieg“ so Antero Holmila, Forscher an der Universität Jyväskylä, Herausgeber eines neuen Buchs mit dem Titel Talvisota muiden silmin (Der Winterkrieg in den Augen der Anderen).
„Die Erinnerung an den Krieg nährt ein nostalgisches Bild vom Finnland vergangener Zeiten“, sagt der junge Historiker. „Die Standhaftigkeit, mit der die Finnen sich dem Gegner widersetzten, legt Zeugnis von moralischen Werten ab, die damals – und auch heute noch – hoch im Kurs standen, wie Patriotismus oder das Zusammenrücken zum Erreichen gemeinsamer hehrer Ziele.“ Was Holmila offenbar sagen will ist, dass Menschen, denen die pluralistische Gesellschaft unserer Tage Unbehagen bereitet, dazu neigen, das Bild von einer Gesellschaft zu idealisieren, die, so meint man, früher einmal existiert hat. Aber wie weit trifft jenes Bild zu?
Erweiterung des nationalen Horizonts
Holmila will weder provozieren noch herausfordern, sondern ihm geht es darum, Platz zu schaffen für mehr Zwischentöne und eine nuanciertere Betrachtungsweise. Da der Winterkrieg bzw. die Erinnerung an ihn nach wie vor einen festen Platz in der finnischen Kultur und Gesellschaft einnimmt, wollte Holmila die traditionelle Sicht vom kleinen heroischen Finnland hinterfragen und den Horizont erweitern. „Ich wollte das Bild, das die Auslandspresse in der Welt vermittelte, in den Vordergrund stellen“, erklärt er. „Das Entzaubern von nationalen Mythen ist nicht nur ein Trend in Historikerkreisen, sondern eine wichtige Marschroute.“
Holmila betrachtet den Winterkrieg als einen Teil der europäischen Geschichte und als ein Stein im großen Puzzle des Zweiten Weltkriegs. „Die Art, wie wir uns an unseren eigenen Krieg erinnern, unterscheidet sich gar nicht so sehr davon, wie der Zweite Weltkrieg in weiten Teilen des übrigen Europas im kollektiven und individuellen Gedächtnis fortlebt. Dass noch die letzten Jahrgänge von Kriegsveteranen und anderen Augenzeugen leben, verleiht dem Jubiläumsjahr eine besondere Dimension und bietet eine Chance, Geschichte politisch zu nutzen. Indem man die Bedeutung herausstellt, die der Winterkrieg hatte und hat, ehrt man zugleich die Veteranen“, fügt er hinzu.
Heldengeschichte oder Trauma?
Die weithin akzeptierte Sicht in Finnland, so betont Holmila, besagt, dass der Ausbruch des Kriegs auf das Konto der Anderen ging. Schuld hatten die Architekten des Hitler-Stalin-Pakts, also Nazi-Deutschland und die Sowjetunion. Diese Sicht beeinflusst auch die Weise, in welcher der gesamte Konflikt diskutiert und erinnert wird. Von Reue und Bedauern wie beispielsweise in Deutschland ist in Finnland wenig die Rede.
Das bedeutet nicht, dass die Erinnerung an den Krieg unproblematisch sei. „Ich persönlich würde den Krieg als ein Trauma im Heldengewand bezeichnen. Offenbar ist er beides, Trauma und Heldentum, aber mit dem Akzent auf Ersterem.“
Der Krieg hatte verborgene Auswirkungen. Über seine traumatische Seite hat man gerade erst zu reden begonnen. „Die Kontroverse im Umfeld der Grabfunde von Huhtiniemi, in denen man zunächst ein Massengrab für finnische Deserteure vermutet hatte, ist ein jüngeres Beispiel dafür, wie stark die Emotionen sind, die der 70 Jahre zurückliegende Krieg in der Bevölkerung immer noch freizusetzen vermag.“ Verschwiegene und totgeschwiegene Ereignisse der Vergangenheit neigen dazu, sehr präsent in der Gegenwart umherzugeistern.
„Es fällt uns schwer, die Leiden und Traumata mit der ‚Erfolgsgeschichte‘ des Winterkriegs in Einklang zu bringen und sie in das Bild einzufügen“erklärt Holmila. Er betont auch, dass es schwer wie auch riskant sei, auf kollektiver Ebene zu generalisieren: „Für einige war der Krieg trotz aller seiner grausamen Aspekte eine großartige Zeit und etwas, für das es sich zu leben lohnte. Für andere war er nichts als Leiden.“
Faszinierende Einheit, exotische Szenerie
Es ist nicht so, dass gleich nach Ausbruch der Kampfhandlungen Korrespondenten nach Finnland entsendet wurden. Allgemein erwartete man, dass das Land binnen kurzer Zeit fallen würde, so wie man es zuvor mit Polen und der Tschechoslowakei erlebt hatte. „Der spätere Ansturm von Kriegsberichterstattern spiegelt ein echtes Interesse an der Wende wieder, die die Ereignisse in Finnland genommen hatten“so Holmila.
Alle größeren Verlagshäuser schickten Korrespondenten nach Finnland – allein aus Großbritannien kamen dreißig. Ein weiterer Grund für die große Aufmerksamkeit war zweifelsohne das Timing: Die Auseinandersetzungen fielen in eine Zeit, in der die Nachrichtenagenturen ihre Netze an Kriegsberichterstattern kräftig ausgeweitet hatten, in der es aber an anderen Fronten noch ziemlich ruhig zuging.
Bedeutung ausländischer Historiker
Es gab eine Reihe von Korrespondenten, die mit großem emotionellen Engagement über den Winterkrieg berichteten. Das prominenteste Beispiel ist John Langdon-Davies, ein produktiver britischer Journalist, der als Gründer des Kinderhilfswerks sowie durch seine Berichte über den spanischen Bürgerkrieg berühmt geworden ist. „er Titel seiner Kriegsmemoiren Finland: The first total war (Finnland: Der erste totale Krieg), spricht Bände“ meint Holmila. Solche Berichte sind zugleich willkommene Beiträge zur Geschichtsschreibung über Finnland.
„Die finnische Geschichtsschreibung wird dadurch beschränkt, dass ihre Autoren fast ausschließlich Finnen sind. Schon allein die Sprache stellt eine hohe Barriere dar. Was wäre aus der Geschichte des französischen Vichy geworden, hätte man sie allein französischen Historikern überlassen?“ fragt Holmila. „Das Geschichtswissen über die Großmächte hat enorm von Beiträgen ausländischer Historiker profitiert“, fährt er fort. Glücklicherweise können Teile der finnischen Geschichte, darunter der Winterkrieg, auch über russische und sowjetische Quellen analysiert werden.
Heute mehr als siebzig Jahre später, ist der Winterkrieg für die Finnen sowohl nahe Vergangenheit als auch weit zurückliegende Geschichte. Vor allem ist er komplex und mit breiteren historischen Kontexten verwoben. Der Winterkrieg ist ein weiteres Beispiel dafür, dass Kriege, wie immer sie auch ausgehen, unermessliche Kosten verursachen und lang anhaltende und vielfach unerwartete Wirkungen zeitigen.
Holmilas empfiehlt folgende Literatur als Einführung zum Thema Winterkrieg
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Von Jens Alderin, November 2009, aktualisiert September 2016