„Neuvola“, wie die Kliniken auf Finnisch genannt werden, bedeutet übersetzt schlicht „Beratungsstelle“ und stellt, wie der Name schon vermuten lässt, ein gesundheitliches Beratungs- und Dienstleistungsangebot dar. Der Neuvola-Besuch kostet nichts und steht daher allen Familien, unabhängig von sozioökonomischen Faktoren, offen.
Während der Schwangerschaft finden regelmäßige Kontrolluntersuchungen statt, und auch nach der Geburt des Babys geht die Familie noch mehrere Jahre lang in die regelmäßige Sprechstunde. Das medizinische Personal überwacht das Wachstum und die Entwicklung des Säuglings und beantwortet alle Fragen, die die Eltern, die sich erst ans Leben als Familie gewöhnen müssen, vielleicht haben.
Das erste Mutter-Kind-Zentrum wurde 1922 im Helsinkier Arbeiterviertel Kallio eröffnet. In nur drei Jahren sank die Kindersterblichkeitsrate dort von 15 auf 3 Prozent.
Ein gesunder Start
Das Neuvola-System wurde nach dem Zweiten Weltkrieg ausgedehnt und Teil der allgemeinen Gesundheitsversorgung in Finnland. Der Grund für die Erweiterung war, dass 1944 ein Gesetz verabschiedet wurde, das den Kommunen die Verantwortung für den Aufbau ihrer eigenen Mutter-Kind-Beratungsstellen auferlegte.
In den Kindersterblichkeitsstatistiken zeigt sich die Tragweite am deutlichsten: Von 1935 bis 1944 lag der landesweite Durchschnitt bei 67,2 je 1.000 Lebendgeburten. 1955 sank die Zahl auf 29,7, 1965 auf 17,6. Sie verringerte sich weiter und begrenzte sich 1975 auf 9,6. Mit 1,8 im Jahr 2021 gehört Finnlands Kindersterblichkeitsrate zu den niedrigsten der Welt.
Die Neuvola gilt als soziale Innovation, als Lösung, die den gesellschaftlichen Bedürfnissen nachkommt und die Gesellschaft stärkt. In der Praxis fördern die Beratungszentren durch ihren Fokus auf Kinder den generellen Gesundheitszustand Finnlands.
Durch die umfassende Unterstützung der gesamten Familie, einschließlich medizinischer Versorgung und praktischer Beratung, trägt die Neuvola dazu bei, dass alle Kinder aller Altersgruppen gesund ins Leben starten können.
Baby in der Box
Finnlands Mutterschaftspaket (seit 1938 eine Tradition): Diese finnische Erfindung enthält Dutzende von Artikeln für das neue Baby. Man schaue sich unsere Videocollage an, um zu erleben, wie sich die Inhalte der Kiste und die Stoffmuster der Kleidung in den letzten drei Jahrzehnten verändert haben.Fotos: Finnisches Sozialversicherungsinstitut; Video: Juho Hakuni/ThisisFINLAND.fi
Eine andere damit verbundene soziale Innovation aus Finnland – eine, die übrigens ziemlich sozial-Media-freundlich ist – ist das Mutterschaftspaket , das manche Leute scherzhaft als „Baby-Box“ bezeichnen.
Es enthält Dutzende Babyartikel, darunter Kleidung, Pflegeutensilien und Bettwäsche. Jedes Jahr entscheiden sich Eltern von etwa 30.000 Neugeborenen für den Erhalt der Kiste. Sie können aber auch stattdessen eine Geldsumme wählen (170 Euro zum Zeitpunkt dieses Schreibens), doch fast alle Ersteltern entschließen sich für das Mutterschaftspaket.
Das 1938 in Finnland eingeführte Mutterschaftspaket-Modell wurde in der einen oder anderen Form mittlerweile in Irland, Schottland und Australien sowie in etwa 60 weiteren Ländern umgesetzt. „Wir haben diverse Umsetzungen und Adaptionen gesehen“, sagt Tuovi Hakulinen, außerordentlicher Professor für Gesundheitsförderung und ehemaliger Forschungsleiter am Finnischen Institut für Gesundheit und Wohlfahrt.
Ein definitiver Erfolg
Raija packt ihr neues Mutterschaftspaket aus, zeigt den Inhalt und gibt ein paar erklärende Worte ab.Video: @raija7208
Es überrascht vielleicht nicht, dass sich das Mutterschaftspaket als perfektes Subjekt für Unboxing-Videos erwiesen hat. Es werden auch Kommentare zu den Stoffmustern gepostet, sobald es neue gibt (jedes Jahr sind sie anders), obwohl der Hauptzweck des Mutterschaftspakets eher Funktion als Fashion ist.
Die Mutter-Kind-Beratungsstelle hat, seit sie 1922 aus der Taufe gehoben wurde, einen langen Weg zurückgelegt. „Die finnische Neuvola ist unbestreitbar eine Erfolgsgeschichte“, sagt Hakulinen. „Durch sie haben wir die Mütter- und Kindersterblichkeit senken können und Finnland zu einem der Geburten sichersten Länder gemacht, sowohl was die Entbindung als auch das Geborenwerden betrifft.“
Die Neuvola-Zentren stehen Menschen mittels Schwangerschaftsvorsorge und Familienplanung zur Seite und fördern die Kindesentwicklung und familiäre Gesundheit. Eine ganze Palette von Dienstleistungen wird landesweit angeboten, darunter pränatale Physiotherapiesitzungen, Familienberatung, Stillgruppen und die Grundimpfungen für Kinder. Die Zentren sind enorm beliebt; 99,7 % der Schwangeren in Finnland nutzen ihre Dienstleistungen.
Jede Familie erreichen
Hakulinen, deren jahrzehntelange Karriere viele Jahre Dienst in Neuvola- sowie Schulgesundheitszentren umfasste, sagt, sie habe im Laufe der Zeit gesehen, „wie sich die Neuvola-Dienste verändert und entwickelt haben“. „Es ist kontinuierlich mehr Schwergewicht auf die Familie als gesamtheitliche Einheit gelegt worden.“
„Die große Stärke des finnischen Neuvola-Systems besteht darin, dass die Dienste praktisch jede Familie erreichen, unabhängig von ihren sozioökonomischen Umständen. Wir haben hochqualitative Dienstleistungen, die die Leute wirklich in Anspruch nehmen wollen“, ergänzt sie.
In den letzten Jahren wurden auch die Online-Neuvola-Dienste ausgebaut. Die Stadt Helsinki offeriert einen Neuvola-Chat-Dienst, bei dem Eltern in Echtzeit mit Gesundheitspersonal sprechen können. Es gibt auch einen 24-Stunden-Neuvola-Chatbot, der viele Fragen beantworten kann, und eine gute altmodische FAQ-Seite , die auf Englisch verfügbar ist.
Die finnischen Mutter-Kind-Beratungsstellen haben sich in zahlreichen anderen Ländern zur Inspirationsquelle entwickel; diese haben die Neuvola an ihre eigenen Umstände und Bedürfnisse angepasst. Japan hat ähnliche ganzheitliche Gesundheitszentren für Mütter und Kinder auf der Grundlage des finnischen Modells aufgebaut und 2017 in Betrieb genommen.
Gehört werden
Durch neue Situationen entstehen neue Herausforderungen für das Neuvola-System. Kirsi Peltonen, leitende Forscherin am Forschungszentrum INVEST, einem Aushängeschild der Universität Turku im finnischen Südwesten, erzählt uns, welche Rolle die Neuvola bei der Bewältigung außergewöhnlicher Umstände spielt.
Jede Familie ist anders, daher können Familien die Neuvola-Zentren vor eine Vielfalt unterschiedlicher Herausforderungen stellen. „Gemeinsam können wir ein sicheres, gesundes Familienumfeld aufbauen“, meint Peltonen. Ein Fallbeispiel, das sie untersucht hat, sind Flüchtlingsfamilien, die versuchen, sich an das Leben in einem neuen Land anzupassen.
„Man sollte bedenken, dass es bei beliebigen Familien, inklusive Flüchtlingsfamilien, welche gibt, denen es gut geht, und solche, denen es nicht gut geht“, sagt sie. „Es ist wichtig, sowohl aus Sicht der Eltern als auch aus Sicht der Kinder eine Bestandsaufnahme der gegebenen Situation zu machen.“
Die Neuvola dient als Ort zur Förderung des körperlichen und geistigen Wohlbefindens jeder Familien. Kinder und ihre Familien erhalten dort Unterstützung bei Problemen, die mit Traumata oder Stress verbunden sind. Dies bedeutet Kommunikation zwischen den Fachleuten und den Familien, Aufbau eines sicheren, ruhigen Umfelds und den Eltern das Gefühl zu verleihen, dass sie gehört werden und Entscheidungsfreiheit haben.
Eine echte Begegnung
Die regelmäßig geplanten Visiten in den ersten Jahren des Kindes bieten auch eine natürliche Gelegenheit, die Eltern „nach ihren Erfahrungen und deren Wirkung auf ihr aktuelles Wohlbefinden“ zu befragen, so Peltonen. Die Familie ist ja bereits in der Praxis und redet über ihr Kind und ihren Alltag.
Die Dienstleistungen der Mutter-Kind-Beratungsstellen haben in den letzten 100 Jahren zugenommen sowie sich weiterentwickelt, und ihre Anpassung an die heutigen globalen Herausforderungen gewährleistet, dass das System auch weiterhin dem Nutzen der Gesellschaft dient.
Da Familien in vielerlei Hinsicht unterschiedlicher sind als je zuvor, müssen Neuvola-Besuche laut Hakulinen auch Zeit für eine „echte Begegnung“ und Dialog beinhalten.
Mutter-Kind-Beratungsstellen haben folgende Ziele:
- die Förderung der Gesundheit und des Wohlbefindens von Schwangeren und ihren Familien
- die Verringerung der gesundheitlichen Ungleichheiten in der Gesellschaft
- die Überwachung und Förderung einer gesunden Schwangerschaft sowie des Wachstums und der Entwicklung von Kindern
- so früh wie mögliche Identifizierung des Bedarfs an besonderer Förderung
- Unterstützung und Hilfeleistung bei Bedarf
Von Emma De Carvalho, Dezember 2022