Esa Lilja ist Doktor der Philosophie, Dozent der Musikwissenschaften und Heavy Metal-Liebhaber. Er kennt die häufigsten Stereotypien dieses Musikgenres und weiß, wie das Heavy Metal und die Renaissancemusik miteinander verwandt sind.
Er lässt seinen Fuß im Takt des Heavy Metals schwingen. Er sitzt im Übungsraum der Heavy-Band Tyrantti und hört genau hin, was Nahka-Sami, Henkka und Paha-Tapio spielen.
Lilja hat sich mit dem Heavy Metal etwas mehr als ein normaler Fan auseinandergesetzt. Er ist Doktor dieses Fachs, ist aber auch für eine Sinfonieorchesterkomposition ausgezeichnet worden.
Als Musikwissenschaftler gehören die Akkorde und Melodien des Heavy Metals und auch der sonstigen Musik zu seinem Fachgebiet, sowie deren Zusammenklänge, d.h. Harmonien.
„Meine wichtigste Entdeckung besteht darin, dass alle Heavy-Akkorde wegen des Gitarren-Verzerrer-Effekts eine große Terz aufweisen. Mit anderen Worten sind alle Akkorde in akustischer Hinsicht Dur-Akkorde, und der Spieler hat darauf keinen Einfluss“, sagt Lilja.
Dur- und Moll-Akkorde stehen nebeneinander
https://youtu.be/PlbXRind7dU
Mehr als bloß Songs: Die finnische Metal-Band Tyrantti spricht über ihre Musik.
Video: Universität Helsinki
In der westlichen Musik stellt die Terz ein wichtiges Intervall dar, denn sie gilt als Grundlage sowohl für Dur als auch für Moll.
„Anders als man oft sagt, ist das Dur kein fröhlicher und das Moll kein trauriger Akkord.“
Man spricht auch über das „Helle“ des Durs und das „Dunkle“ des Molls. Diese extrem vereinfachenden Definitionen haben sich auch in der Gedankenwelt vieler Heavy-Musiker eingebürgert.
„Es ist witzig zu denken, dass auch wenn der Mensch so düsteres Metal wie auch immer machen wollte, er zwangsläufig Durakkorde erzeugen würde“, präzisiert Lilja.
Für das Heavy Metal sind Mollskalen trotzdem viel typischer als Durskalen. Da die Akkorde jedoch fast immer aus Dur-Tönen bestehen, sind die Folgen interessant: Dur und Moll existieren in der Komposition quasi gleichzeitig.
Diese Eigenschaft verbindet das Heavy Metal vom Stil her mit der Renaissace-Polyfonie – ein klassisches Wiener Beispiel ist hierfür „Lacrimos“ von Mozart in Requiem, dessen Abschluss durchaus in einem Heavy-Song vorhanden sein könnte – und das ist es auch beispielweise am Ende des Songs „Sinner“ von Judas Priest.
Pionier der Heavy-Metal-Forschung
Esa Lilja zählt zu den Pionieren der akademischen Heavy-Metal-Forschung.
„Mit der akademischen Heavy-Metal-Forschung begann ich im Jahre 1998, wenn ich mich recht erinnere. Damals interessierte ich mich hauptsächlich für zwei Sachen: Musiktheorie und Heavy Metal, und so dachte ich, dass ich diese zwei Sachen in meiner Seminararbeit vereine. Zu meiner Überraschung merkte ich, dass über dieses Thema fast gar keine akademische Quellenliteratur existierte. Weil ich immer das Gefühl hatte dieses Thema niemals zu Ende bringen zu können, habe ich meine Masterarbeit 2002, die Lizentiatarbeit 2004 und schließlich meine Doktorarbeit 2009 über dieses Thema verfasst.“
Mittlerweile ist die Heavy-Metal-Forschung in Finnland und anderen nordischen Ländern Teil des Mainstreams. Ein Grund hierfür ist seiner Meinung nach ganz einfach die Tatsache, dass das Heavy Metal und die einschlägige Kultur bei uns in sozialer Hinsicht völlig akzeptiert sind – anders als anderswo in der Welt.
Emotionales Verhältnis
https://youtu.be/T8ocB1BWGuY
Mitglieder der Band Tyrantti sprechen über den mit der Metal-Musik verknüpften Gemeinschaftssinn.
Video: Universität Helsinki
An der Universität Helsinki arbeiten momentan auch zwei neue Doktoranden an der Heavy-Metal-Forschung. Lilja betreut Paolo Ribaldini, der Stimmtechniken erforscht.
„Zusätzlich zur Analyse baut Ribaldini ein Kategorisierungssystem für verschiedene Stimmtechniken auf, das auf den physischen Eigenschaften des Stimmbildungsorganismus beruht. Eine derartige umfassende Kategorisierung wurde bisher – soviel ich weiß – zumindest nicht in der Popularmusik verfasst“, sagt Lilja.
Der andere Doktorand von Lilja, Kristian Wahlström, erforscht die pädagogischen Dimensionen des Heavy Metals, d.h. wie Heavy im Musikunterricht eingesetzt werden kann.
„Wenn sich ein Student für das Heavy Metal interessiert und dazu ein emotionales Verhältnis hat, kann das neue zu erlernende Material anhand der ihm bereits bekannten Heavy-Metal-Beispiele aufgebaut werden. So können Gemeinsamkeiten und Analogien in verschiedenen Musikstilen dargelegt werden“, konkretisiert Lilja.
Internationale Finnen
Viele finnische Heavy-Metal-Bands erfreuen sich seit Jahren oder gar Jahrzehnten internationaler Beliebtheit – und dies ist in der finnischen Popularmusik keine Selbstverständlichkeit. Lordi, Apocalyptica und viele andere sind als „Kulturbotschafter“ Finnlands in der Welt aufgetreten. Sie sollen sogar die finnische Kulturidentität widerspiegeln.
Laut Lilja war das finnische Heavy Metal trotz allem schon immer Teil der internationalen Szene.
„Nationale Charakteristika mögen eher mit den äußeren oder besser gesagt mit paramusikalischen Charakteristika verbunden sein, zum Beispiel mit Mythologieverweisen der Songtexte und dem allgemeinen Image. Ein bekanntes Beispiel ist auch Amorphis, deren Texte nur so von Verweisen zum Nationalepos Kalevala wimmeln.“
Laut Dr. Phil. macht auch die innovative Fähigkeit, verschiedene Einflüsse und Genres miteinander zu kombinieren, den finnischen Metalsound einzigartig. Die düsteren Geschichten und Melancholie der Finnen kommen beim Publikum sehr gut an, und gleiche Stereotypien wiederholen sich oft. Zum Beispiel hat der Akademieforscher Toni-Matti Karjalainen die mit dem finnischen Heavy Metal verbundenen Vorstellungen näher erforscht.
Obwohl das Heavy Metal und dessen Publikum international sind, gibt es laut Lilja keine einheitliche Heavy-Metal-Wertewelt.
„Vor allem wir, Heavy-Metal-Anhänger im mittleren Alter, sind eine ebenso eklektische Gruppe wie die Menschen mittleren Alters im Allgemeinen so sind“, sagt der 45-jährige Lilja.
Der Wissenschaftler denkt ein Weilchen nach und es fällt ihm ein verbindender Faktor ein.
„Vielleicht liegt es am Gefallen an rauen Gitarrensounds und am gewissen Pathos. Manch einer mag allerdings auch anders denken.“
Von Karin Hannukainen, Juni 2018