Was der Westen nicht sehen durfte

Die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen sorgt mit dem Inhalt ihres neusten Romans für Furore.

Sie ist eine der heißesten jungen Autorinnen Finnlands. Die estnisch stämmige finnische Autorin, Sofi Oksanen, spricht über ihren Bestseller-Roman Fegefeuer, das bislang erste Buch, das sowohl den Runeberg-Preis als auch den Finlandia-Preis gewonnen hat, die höchsten literarischen Auszeichnungen, die Finnland zu vergeben hat. Doch dem nicht genug: 2010 bekam Oksanen für das mittlerweile in Englisch erschienene Buch auch den Literaturpreis des Nordischen Rats. Auf Deutsch ist ihr Roman auch schon erhältlich, und 2012 will die Finnische Nationaloper eine Opernversion von ihrem Buch inszenieren.

Die Grundlage für Sofi Oksanens erfolgreichen Roman Fegefeuer (Puhdistus) war eigentlich ihr erstes gleichnamiges Theaterstück, das 2007 am Nationaltheater in Helsinki uraufgeführt wurde. Es wurde 2009 in einer szenischen Lesung bei den Berliner Festspielen aufgeführt. Übersetzerin war Angela Plöger, die auch für die im August bei Kiepenheuer&Witsch erschienene deutsche Übersetzung verantwortlich zeichnet. In Englisch, Französisch und mehrere andere Sprachen ist der Roman ebenfalls bereits veröffentlicht worden. Weitere Sprachen befinden sich in Vorbereitung.

Das wahre sowjetische Estland

Oksanen ist vielleicht die einzige Person, die in der Lage ist, ein Buch wie dieses zu schreiben. 1977 im mittelfinnischen Jyväskylä geboren und aufgewachsen, verbrachte die estnisch-finnische Autorin und Dramatikerin viele Sommer in Estland, und das nicht in der Hauptstadt Tallinn, wo auch früher schon die Touristen herumliefen, sondern bei der Großmutter auf dem Land.

Die Großmutter wohnte in einer Kolchose sowjetischen Musters. Oksanen besuchte also einen Ort, zu dem Westler eigentlich keinen Zugang hatten. Sie sah, was der Westen nicht sehen sollte – „das wahre sowjetische Estland“, wie sie es nennt. Sie stand dieser Welt nahe genug, um glaubwürdig zu sein, war aber auch distanziert genug, um über den Tellerrand hinauszublicken.

Der Roman pendelt zwischen Vergangenheit und Gegenwart ständig hin und her. Er verfolgt Estlands Weg von der Zeit vor den stalinistischen Deportationen 1949 bis zur Unabhängigkeit 1991.“Ich kann praktisch nicht in chronologischer Reihenfolge schreiben“, sagt Oksanen. „Ich versuche, Dinge auf einer metaphorischen oder symbolischen Ebene, oder einfach nur durch Intuition zu verbinden.“

Das Buch alterniert auch zwischen den Hauptfiguren, zwei Frauen aus verschiedenen Generationen: Aliide, einer ländliche Dorfbewohnerin, und Zara, einem Opfer von Menschenhandel. Sie beide erleben rücksichtslose Gewalt und versuchen, in Welten zu überleben, die dazu begrenzte Möglichkeiten bieten, wo Vernunft die Ausnahme zu sein scheint.

Musikalische Phrasierung mit Schmerz

“Für den Buchdeckel wollte ich ein großes Ohr mit einem goldenen Ohrring”, sagt Oksanen.

“Für den Buchdeckel wollte ich ein großes Ohr mit einem goldenen Ohrring”, sagt Oksanen.Foto: R. Eiro; Kunst: S. Sorsa

Fegefeuer erschien erst als Theaterstück, und wurde dann von Oksanen zu einem Roman umgeschrieben. Kritiker bewundern an ihr die Fähigkeit eine Handlung voller Spannung und Dramatik aufzubauen, Prosa zu schreiben, die natürlich fließt und Ereignisse in lebhaften Details darstellt.

Irgendwie weiß man, was gemeint ist, wenn sie eine Küche als „still schreiend“ schildert, oder wenn Aliide über sich selbst und eine andere Figur als „sicher und zusammen“ denkt, wenn sie in Wirklichkeit beides nicht sind. „Meine Absicht ist es, auf musikalische Weise zu schreiben“, sagt Oksanen.

Sie wechselt nach Gutdünken die Gangart, erhöht das Tempo in einem Satz, um mit den Figuren und ihren rasenden Gedanken Schritt zu halten. Mit ihrem warmen Stil lässt sie den Leser an ihre dunkelsten, schmerzlichsten Momente heran. Man fühlt ihre Verzweiflung angesichts Verrat, Gewalt, Vergewaltigung, Ungerechtigkeit und Angst. Dennoch gibt Oksanen dem Leser nie das Gefühl, es nicht mehr ertragen zu können und das Buch niederzulegen.

Die Musikalität ihres Schreibstils mag auch den in Berlin lebenden estnischen Komponisten und Dichter, Jüri Reinvere, und den künstlerischen Direktor der Finnischen Nationaloper, Mikko Franck, dazu inspiriert haben, „Fegefeuer“ als Oper auf die Bühne zu bringen. Im April 2012 soll die Premiere sein.

Nach Sibirien

Das finnische Wort „puhdistus“ kann „Rechtfertigung“ bedeuten, aber es kommt von dem Wort „sauber“ und kann auch als „Säuberung“ übersetzt werden. Es charakterisiert die Deportation nach Sibirien von Zehntausenden Esten unter Stalin.

„Als ich ein Kind war“, sagt Oksanen, „sprach niemand sprach über Deportationen. Die Menschen ‚gingen nach Sibirien’. Gewisse Dinge waren so gefährlich, sie zu erwähnen, dass man eine Menge von Ausdrücken verwendete, um die eigentlichen Sachverhalte zu verschleiern.“

„Als ich anfing, das Theaterstück zu schreiben, und über den Titel nachsann, dachte ich über die traumatischen Reaktionen der Menschen nach, die Gewalt erlebt haben oder vergewaltigt worden sind“, erzählt die Autorin. „Solche Menschen versuchen stets sich zu säubern. Das war für mich die erste Bedeutung von ‚Säuberung‘.“

Ist es leichter aus einem Drama einen Roman zu machen?

„Ein Roman erfordert mehr Hintergrund-Informationen erfordert“, sagt Oksanen. „Man muss viel wissen, was man nicht braucht, wenn man ein Stück inszeniert.“

„Ich wollte im Roman eine realistische Atmosphäre und Welt schaffen. In einem Theaterskript müssen nicht die Namen von Zeitschriften und dergleichen vorkommen. Auf der Bühne sieht das Publikum das ja nicht.“

Eine Geschichte in zwei verschiedenen Formen zu erzählen, ändert sogar die Figuren: „Ich wusste, dass Aliide der Typ Mensch ist, der in sich gekehrt ist, der die Dinge nicht aussprechen oder Zara erzählen würde. Aber bei einem Theaterstück hat man Publikum, und so spricht Aliide dort mehr darüber, was passiert ist. Das ist ein großer Unterschied.“

Seltsame Ereignisse

Oksanen plant ihre nächsten zwei Romane.

Oksanen plant ihre nächsten zwei Romane.Foto: Toni Härkönen

Wenn eine finnisch-estnische Autorin ein Buch schreibt, das in der jüngsten estnischen Geschichte herumgräbt, denkt man irgendwie an Parallelen mit Finnland. Natürlich war Finnland nie Teil der Sowjetunion, aber „es gibt eine Menge seltsamer Ereignisse in der finnischen Geschichte, die mit der Sowjetunion zusammenhängen“, meint Oksanen.

Einige Filme wurden aus politischen Gründen in den 1970er Jahren zensiert, und ein Teil der finnischen Übersetzung des Archipel Gulag von Solschenizyn wurde in Schweden veröffentlicht, weil kein Verlag in Finnland es wagte, sie anzurühren.

Sind diese Vorkommnisse es wert, ein Buch darüber zu schreiben? „Ich denke schon“, sagt die Autorin. „Welchen Einfluss die ‚Finnlandisierung‘ auf die Presse hatte und die finnischen Schulbücher, ist ein großes Problem.“

Doch die nächsten zwei Romane handeln wieder von Estland. Mehr verrät sie nicht.

„Den Runeberg- und den Finlandia-Preis zu gewinnen wäre unschlagbar. Der Finlandia-Preis wird nur Romanen verliehen, der Runeberg-Preis ist für alle Sparten, d.h. es gibt auch viel mehr Konkurrenz“, sagte Oksanen noch einige Tage, bevor sie mit dem Runeberg-Preis ausgezeichnet worden ist.

Und nun gar noch zum krönenden Abschluss den Literaturpreis des Nordischen Rats zu erhalten, macht Fegefeuer noch einzigartiger, und die Konkurrenten kamen diesmal aus sechs verschiedenen Ländern. „Es ist schwierig für mich, den Roman als etwas Außergewöhnliches anzusehen“, sagte Oksanen in Finnlands größter Tageszeitung Helsingin Sanomat, nachdem ihr Buch den Sieg über die Konkurrenz aus Schweden, Finnland, Dänemark, Norwegen, Island und den Färöer Inseln davontrug.

„Viele Leser von außerhalb Finnlands haben gesagt, dass der Roman ihnen wochenlang nachgeht“, fuhr sie fort. „Die Atmosphäre lässt sie nicht los.“ Wir warten schon gespannt auf die Reaktionen der deutschsprachigen Leser.
 

Von Peter Marten, Februar 2009, aktualisiert im Oktober 2010