Der diesjährige finnische Beitrag zum Eurovision Song Contest ist in mehrfacher Hinsicht einmalig und hat bei den Medien überall auf der Welt Aufmerksamkeit erregt.
60 Jahren lang war der Eurovision Song Contest (ESC), ein Event, das heutzutage 200 Millionen Zuschauer in seinen Bann zieht, ein Fest des Bubblegum-Pops und schmalziger Balladen. Die große Ausnahme gab es 2006, als die finnische Monster-Metal-Band Lordi, die ersten Hard Rocker in diesem Gesangswettbewerb, mit dem größten Stimmenvorsprung aller Zeiten den Contest gewannen.
Der diesjährige finnische Beitrag, der bis Redaktionsschluss in den Wettbüros unter den 40 Beiträgen auf dem zweiten Platz rangierte, wird wahrscheinlich noch mehr Barrikaden sprengen.
Die Vier-Männer-Band Pertti Kurikan Nimipäivät (oder bequemer PKN)“ gewann mit „Aina mun pitää“ (etwa: „Ich muss immer“) den finnischen Vorentscheidungswettbewerb und erwarb sich damit das Recht, ihr Land Ende Mai in Wien zu vertreten.
Ausdruck des Frusts über die Gesellschaft
PKN ist nicht bloß die erste Punkband im Gesangswettbewerb und hat zudem den kürzesten Beitrag, den es je gab, ihre Mitglieder haben zudem Lernstörungen und andere Behinderungen, darunter Autismus. Die Band fand sich 2009 in einem Bildungszentrum für Menschen mit Behinderungen zusammen. Seither tourte PKN durch Europa und die USA und schaffte sich 2012 durch seinen brisanten, ungeschminkten Dokumentarfilm „The Punk Syndrome“, der haufenweise Preise einheimste, einen weltweiten Namen.
Der Film zeigt die Männer, wie sie den Punk benutzen, um ihrem Frust über die Gesellschaftssysteme Luft zu machen. Sänger Kari Aalto brüllt Texte wie „Ich will nicht in einer Institution leben / Ich brauche Respekt und Würde im Leben“ und „Ich hasse das Parlament / Ich hasse diese Welt.“
Gitarrist Pertti Kurikka hat desweilen Schwierigkeiten mit dem Sprechen, spielt aber feurig auf seiner Gitarre und schreibt schroffe, manchmal aufwühlende Texte, Gedichte und zeichnet Illustrationen. Einiges davon wurde international veröffentlicht und auf Webseiten wie dem Rock-und-Pop-Kultur-Portal „The Quietus“ vorgestellt.
Die Sturköpfe wollen ihren Stil auch für die Eurovision unter keinen Umständen ändern. Es wird also etwas wunderlich anmuten, dass vier schäbig aussehende Männer mittleren Alters in Lederjacken mitten im Diskoball-Glitzer des ESC Punk im Stil der 70er Jahre herausschmettern.
Die Medien reagieren auf die urwüchsige Punk-Gesinnung von PKN
Die Meldung, dass sich eine Band, die so überhaupt nichts mit dem Pop-Mainstream am Hut hat, in die flauschige Welt des ESC hineingegrölt hat, hat das Interesse der Medien erweckt.
„News New Zealand“ bezeichnete sie als „den ersten reinen Punk-Auftritt beim Eurovision Song Contest“, während der „Toronto Star“ schrieb: „Ich denke, wir sind uns alle einig, dass wir Finnland den Daumen drücken“. „Sie rocken wirklich“, stimmte die beliebte US-Website „BuzzFeed“ in den Chor ein. Und die Fox-Nachrichtenstation in Birmingham, im amerikanischen Alabama, begeisterte sich darüber, dass PKNs „frenetischer Song nur eine Minute und 25 Sekunden lang“ sei.
Nach Angaben der rumänischen Tageszeitung „Adevărul “könnte diese einzigartige Wahl für immer die Einstellungsweise gegenüber Menschen mit Behinderungen im Showbusiness verändern“.
Sogar bis zum Parlament
Unterdessen stellte die britische Tageszeitung „The Independent“ in ihrer Story über die Band irreführenderweise das Thema, dass PKN beim Eurovisionswettbewerb auf eine „Sensibilisierung“ aus sei, in den Mittelpunkt. In einem BBC-Interview spielte Bassist Sami Helle diesen Aspekt jedoch herunter.
„Es ist nicht unser vorrangiges Ziel, Einstellungen zu verändern“, sagte er. „Unser Hauptziel ist, nach Wien zu reisen, eine gute Show zu machen, in der die Musik zuerst kommt. Denn Musik ist die große Sache für uns.“
Aber Helle, der nach eigenen Worten in die Politik gehen will, hat kürzlichst das finnische Parlament besucht, um mit Abgeordneten über die UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu reden. An diesem Tag wurde sie nach siebenjähriger Verzögerung provisorisch vom Gesetzgeber zugelassen.
„Ich habe mich noch nie in diesem Land gleichwertig gefühlt, und dies ist ein wichtiger Tag für mich“, erklärte er. „Wir haben auf diesen Tag gewartet.“
Von Wif Stenger, März 2015