Auf der Suche nach den Gaben der finnischen Wälder

Zum Pilze- und Beerensammeln in den Wald zu gehen, gilt in Finnland als normaler Zeitvertreib. Manche bezeichnen das sogar als Sport.

Meine Augen suchten den Waldboden ab, schweiften über Moos, Tannennadeln und gelbe Birkenblätter, und es dauerte nicht lange, bis ich etwas entdeckt hatte.

„Hier drüben“, rief ich, „Pfifferlinge“.

„Sehr gut“, erwiderte mein Freund Richard. „Du bist im Finden schon besser geworden.“

Ich war etwas stolz auf meine neu entdeckte Fähigkeit, Pilze aufzuspüren, wurde aber bald schon eines Besseren belehrt. Richards Tochter Sophie, die zum Zeitpunkt des Schreibens drei Jahre alt war, trottete mit vollen Händen auf mich zu. Sie hatte doppelt so viele Pilze gefunden wie ich.

Eine Familienangelegenheit

Ein Mädchen hält einen Pilz hoch, den sie im Wald gepflückt hat.

Schon früh den Wald lieben lernen: Sophie zeigt einen Pilz, den sie gefunden hat. Foto: Aus der Sammlung der Familie

Finnen lieben ihre Wälder. Laut einer Umfrage von 2017 pflücken 46 Prozent der Finnen Beeren und 32 Prozent sammeln Pilze. Sie üben „das Jedermannsrecht“ aus, das finnische Konzept, das formell besagt, dass man überall wandern und Pilze und Beeren sammeln kann, auch auf privatem Grund, solange man die Umwelt oder andere Menschen nicht stört.

Richard und seine Familie bringen mir schon seit einigen Jahren bei, wie man Pilze sicher sammelt. „Sicher“ ist das Schlüsselwort, denn in Finnland gibt es auch giftige Pilze.

„Man identifiziere jeden Pilz dreimal“, betont Richard. „Zuerst, wenn man ihn pflückt, anschließend wenn man ihn reinigt und zuletzt wenn man ihn zubereiten. Wenn man zu irgendeinem dieser Zeitpunkte nicht hundertprozentig sicher ist, dass es sich um eine essbare Sorte handelt, wirft man ihn weg.“

Richard, halb britisch und halb finnisch, lernte von seinem finnischen Großvater, wie man Pilze findet. Bia, seine Frau, erwarb von ihrer Familie in ihrer Heimat Estland ihre Pilzkenntnisse. Jetzt ihre Tochter Sophie dabei, sich das Wissen über den Reichtum des finnischen Waldes anzueignen.

„Es ist ein Hobby, das wir zusammen ausüben“, sagt Richard. „Es macht viel Spaß, wenn man Pilze findet. Und wir essen sie auch gerne.“

Sich für den Winter eindecken

Ein Mann pflückt Pilze im Wald.

Man muss wissen, wo man suchen muss, wie Richard demonstriert. Foto: David J. Cord

Die Pilzsaison hängt vom Wetter ab, aber frühe Sorten schießen normalerweise kurz nach dem Hochsommer in Südfinnland aus dem Boden. Das Pilzsammeln endet meist mit dem ersten Frost; Trichterpfifferlinge gehören zu den letzten Pilzarten der Saison und können sogar einen milden Frost überstehen. In Finnland gibt es zahlreiche essbare Pilzarten, aber ich halte mich lieber an solche, die leicht zu identifizieren sind.

„In gemischten Birken- und Fichtenwäldern mit sandigem Boden und viel Moos suchen wir Pfifferlinge“, erzählt Bia. „In dichten Fichtenwäldern mit dunklem Boden ist es wahrscheinlicher, dass man auf den Gemeinen Steinpilz trifft, während man in Birkenwäldern die Birkenrotkappe finden kann. Nach diesem Prinzip suchen wir nach ihnen, aber jeder hat seine eigene Strategie.“

Häufig werden die Pilze gleich nach dem Sammeln von der Familie verzehrt. Sie werden von ihr in Butter gebraten und in Nudel-, Reis-, Eiergerichte oder in Saucen gemengt. Sie werden auch durch Einfrieren, Trocknen oder Einlegen konserviert. Ihre Lagermethoden sind eine Mischung aus Moderne und Altertum, ob glänzender Gefrierschrank aus rostfreiem Stahl oder ein mit Steinen ausgekleideter Vorratskeller.

„Eingelegte Pilze eignen sich gut für Salate“, sagt Bia. „Getrocknete Pilze geben schmackhafte Suppen her. Ich ziehe es vor, Pilze einzufrieren, weil man damit alles machen kann.“

Himmlische Beeren

Eine ausgestreckte Hand hält blaue und rote Beeren.

Im Spätsommer und Frühherbst überschneiden sich eine Zeitlang die Saisons für die süßen Heidelbeeren und die säuerlichen Preiselbeeren, und man kann beide beim selben Waldgang finden. Foto: David J. Cord

Richard ist ein begeisterter Jäger und Fischer, und die riesigen Gefriertruhen der Familie stecken voller Fisch und Wildbret. Chaga-Pilz-Tee und Tannennadelsirup macht er auch selbst und streut getrocknete Waldweidenröschen auf seine Steaks.

„Wir machen auch Himbeer- und Preiselbeermarmelade“, sagt Richard. „Moltebeeren sind auch gut, aber man muss zu den Mooren wandern, um sie zu finden. Sophie liebt Beeren. Sie isst jede Walderdbeere, die sie erblickt.“

„Was ist deine Lieblingsbeere“, frage ich Sophie.

„Heidelbeeren“, verkündet sie mit Inbrunst und zeigt ihre von blauem Saft befleckten Hände. Die Heidelbeeren, die in den nordischen Ländern wild wachsen, sind kleiner als ihre nordamerikanischen Cousins und werden auch als Blaubeeren bezeichnet. Im Herbst findet man eher die säuerlichen roten Preiselbeeren.

Auch ich mag Heidelbeeren, aber ich freue mich, einfach so in den Wald zu gehen, selbst wenn sie zu nicht in Saison sind. Zeit in der Natur zu verbringen, tut einem gut. Das ist eine Philosophie, der sich auch die Familie von Bia und Richard verschrieben hat.

„Einmal hatte mein Arbeitgeber japanische Kollegen zu Besuch. Sie brachten jedoch ihre ganze Zeit mit Arbeiten zu“, erzählt Richard. „Schließlich sagte ich zu ihnen, ihr habt zu viel gearbeitet, wir gehen jetzt in den Wald. Immer noch in unseren Anzügen verließen wir das Büro und suchten Pilze. Es hat tollen Spaß gemacht.“

„Das wird ihnen wohl über ihre Finnland-Reise immer in Erinnerung bleiben.“

Von David J. Cord, September 2020