Ein Ryijy ist ein finnischer, traditionell aus Wolle handgefertigter Wandteppich, der manchmal auch als Decke verwendet wurde. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts erlebt der Ryijy ein Comeback in der Kunst, Mode und Innenarchitektur. Bei jungen Künstlern erfreut er sich zunehmender Beliebtheit.
Die Ausstellung Woven Beauty in der Kunsthalle Helsinki (bis 23. Mai 2021) zeigt 130 herrlich gestaltete finnische Ryijy-Kunstwerke, von denen das älteste aus dem Jahr 1707 stammt. Falls Sie die Ausstellung nicht besuchen können, sei es aus geografischen Gründen oder wegen des Coronavirus, oder diesen Text erst später lesen, wird Ihnen unser Artikel und seine Fotos einen Einblick in eine uralte, sich stetig weiter entwickelnde finnische Kunstform geben.
Geschichte und Moderne
Die Ausstellung der Kunsthalle Helsinki basiert auf der Sammlung von Tuomas Sopanen, der mit fast 600 Ryijy-Wandteppichen die größte private Ryijy-Sammlung in Finnland besitzt. Sopanen sowie die Kuratoren Juha-Heikki Tihinen und Eeva Holkeri haben eine Ausstellung konzipiert, die sowohl historische als auch zeitgenössische Exponate sowie eine große Vielfalt an Techniken und Materialien zeigt.
Viele der Exponate und Designs wurden von herausragenden finnischen Textilkünstlern und -künstlerinnen geschaffen, darunter Uhra-Beata Simberg-Ehrström, Irma Kukkasjärvi und Armi Ratia. Ratia gründete später das international erfolgreiche Textildesign-Unternehmen Marimekko. Sogar von Akseli Gallen-Kallela, einem der berühmtesten finnischen Maler, gibt es einen Ryijy.
Mit ihren verblassten Farben und Stoffen weht mit einigen der älteren Ryijy-Arbeiten ein Hauch von Geschichte in die Ausstellungsräume. Das ist „ein Teil ihres Charmes“, sagt Tihinen. Holkeri ergänzt: „Ich bin sehr fasziniert und beeindruckt von der technischen Perfektion älterer Ryijys.“
Ursprüngliche Kunst
Diese kurze Führung durch die Ausstellung in der Kunsthalle Helsinki gewährt einen Überblick über viele der gezeigten Exponate (auf Englisch, mit englischen Untertiteln).Video: Kunsthalle Helsinki
Obwohl der Ryijy Verbindungen zur schwedischen Rya– und norwegischen Rye-Technik aufweist, nimmt er einen festen Platz in der finnischen Kunst- und Textilgeschichte ein. Die ersten finnischen Ryijy-Wandteppiche wurden von Wikingern im neunten Jahrhundert verwendet. Die dicke Wollschicht sorgte für Wärme, und Wasser konnte ihnen nichts anhaben, was den Ryijy im Boot zu einer idealen Decke machte. In den folgenden Jahrhunderten wurden Ryijys als Tagesdecke und sogar als Schlittendecke genutzt. Oft webte eine Braut oder einer ihrer Verwandten zur Erinnerung an die Hochzeit einen Braut-Ryijy.
Seit dem 19. Jahrhundert haben sich sowohl Künstler als auch Wissenschaftler mit den Ursprüngen von Kunst und Ästhetik beschäftigt, indem sie Textilien und andere alternative künstlerische Ausdrucksformen, darunter den Ryijy, untersuchten. Er nimmt in der finnischen Kunstgeschichte einen besonderen Platz ein und ist sowohl mit internationalen Kunstströmungen als auch mit altehrwürdigen Traditionen verknüpft. In der Nachkriegszeit fanden zeitgenössische Strömungen wie der finnische Modernismus und die Abstraktion Eingang in die Ryijy-Kunst. In dieser Zeit begann man auch, Wandteppiche als Kunstwerke zu betrachten, die in Privatwohnungen aufgehängt werden können.
Viele Exponate der Ausstellung zeigen Symbole wie eine Rose, einen Lebensbaum oder eine Sanduhr. Diese Symbole können sowohl den Ursprung des Ryijy als auch seinen beabsichtigten Zweck verraten. Das Lebensbaum-Motiv aus Mittelfinnland zum Beispiel enthält Zweige und Früchte und sollte der Familie, die den Ryijy als Geschenk erhielt, Glück bringen.
Tihinen zeigt eine seiner Lieblingsarbeiten aus der Sammlung, Simberg-Ehrströms Oras (Neue Ernte, 1972). Das Werk ist mit den Initialen der Künstlerin versehen – ein Hinweis darauf, dass es sich um eine erste Fassung handelt. Simberg-Ehrström spielte mit Farben und erzeugt den Eindruck, als ob die Mitte des Ryijys leuchtet. „Dies ist einer der schönsten Ryijys überhaupt“, sagt Tihinen. (Oras ist auch im Video oben zu sehen.)
Neue Richtungen
Die Ausstellung präsentiert zudem moderne, auffallende, experimentelle Werke, darunter Jonna Karankas Every Season’s Ry or Ru und Tenka Issakainens Rosanvärinen ryijy. Sowohl Karanka als auch Issakainen sind bedeutende zeitgenössische Ryijy-Künstlerinnen. In ihren Arbeiten kombinieren sie farbenfrohe Stoffe mit dekorativen Objekten wie Federn, einem BH-Träger, einer Spielzeuggitarre, Perlen, Lametta oder Blumen.
Viele der neueren Kunstwerke können als Teil einer neuen Welle der postmodernen Ryijy-Kunst betrachtet werden. Diese stärker werdende Strömung zeichnet sich aus durch das Experimentieren mit Formen und Materialien und stellt das grundlegende Konzept dessen, was ein Ryijy ist, in Frage. Dennoch beschäftigen sich zeitgenössische Künstler weiterhin mit den traditionellen Elementen der Kunstform. Sie „spielen auf unterschiedliche Weise mit Traditionen und den Grenzen der Ryijy-Tradition“, sagt Tihinen.
Der Ryijy findet seinen Platz in diversen kulturellen und künstlerischen Räumen. „Interessant ist, dass Handwerkskunst und Handwerk geschätzt werden“, sagt Holkeri. „Das Weben von Ryijys kann als Gegengewicht zum hohen Tempo des Lebens verstanden werden.“
Die Traditionen und die Kunst des finnischen Ryijy werden auch in Zukunft Kunstbegeisterte und ambitionierte junge Künstler inspirieren. Als ich durch die Kunsthalle schlenderte, hörte ich, wie ein Museumsbesucher, der gerade die Kunstwerke bewunderte, zu einem anderen sagte: „Vielleicht solltest du den Ryijy ausgraben, den du zu Hause hast.“
Von Emma De Carvalho, April 2021