Kunst zum Teilhaben: Designer erläutern das finnische Videospiel Alan Wake und die Entwicklung von Spielen

Sie reflektieren die Gesellschaft, bringen uns zum Weinen und lassen uns den Atem voller Erwartung anhalten. Videospiele kombinieren mehrere Kunstformen, werden jedoch auf der Kraft des interaktiven Geschichtenerzählens aufgebaut. Die Macher der globalen Hit-Serie Alan Wake des finnischen Videospiel-Entwicklers Remedy Entertainment erzählen uns, wie es gemacht wird.

Sind Videospiele deiner Meinung nach Kunst? Experten auf diesem Gebiet sind sicherlich dieser Meinung.

Das Smithsonian American Art Museum, das Museum of Modern Art in New York sowie das Victoria and Albert Museum in London sind nur einige wenige von vielen hervorragenden Einrichtungen, die sich im vergangenen Jahrzehnt für die Aufnahme von Videospielen in ihre Kunstsammlungen entschieden haben.

Warum hätten sie sich auch anders entscheiden sollen? Spiele sind das gemeinsame Ergebnis einer enormen künstlerischen Leistung von Illustratoren, Animatoren, Drehbuchautoren, Komponisten, Designern und Direktoren, die von qualifizierten Programmierern miteinander verflochten wird.

Noch wichtiger ist, dass sie oft genauso viel über die Welt, die uns umgibt, zu sagen haben, wie alle Coppola-Filme oder Dalí-Gemälde. Die heutigen Spieleentwickler gehen mutig schwierige Themen an, von Kinderkrebs bis hin zu Geschlechtergleichheit, und wollen tiefe Gefühle bei ihrem Publikum hervorrufen.

„Ich brenne für die Idee, dass das, was wir tun, Kunst ist. Wir haben hohe kreative Ambitionen. Der künstlerische Ausdruck ist ein wichtiger Schwerpunkt in allen unseren Projekten“, sagt Sam Lake (geborener Sami Järvi; järvi bedeutet „lake“ auf Finnisch), Creative Director des finnischen Game Studios Remedy Entertainment.

Kunst gibt es in vielen Formen, von gemalten Meisterwerken bis hin zu Musik. Die persönliche Spezialität von Lake jedoch ist das Geschichtenerzählen. Remedy ist weltweit für narrative Spiele bekannt, die bewusst die Grenzen des Videospielformats überwinden.

„Die Art, wie Spiele Geschichten erzählen, macht sie als Medium und Kunstform einzigartig, weil der Spieler darin ein aktiver Teilnehmer sein kann“, erklärt er. „Eine gute Geschichte bleibt, unabhängig vom Medium, eine gute Geschichte. Ein Videospiel bindet jedoch den Spieler in die Geschichte ein.“

Frühe Versuche

Ein Mann in einem dunkelblauen Hemd und einer Weste sitzt auf einem Stuhl und schaut in die Kamera.

Als Sam Lake um die Jahrtausendwende seine Karriere begann, befand sich die Spieleindustrie noch in einer ganz anderen Phase.
Foto: Remedy Entertainment

Für einige mag es überraschend sein, dass Videospiele sogar Geschichten haben. Innerhalb von nur wenigen Jahrzehnten haben sich die Spiele von einfachen Reflextests bis hin zu kinowürdigen Erlebnissen entwickelt, die von nahezu fotorealistischen Kopien von Hollywood-Stars zum Leben erweckt werden.

Diejenigen, die die Abenteuer von Super Mario als Kinderspiel in den 1980er-Jahren ablehnten, haben möglicherweise der Entwicklung seither einfach keine Beachtung geschenkt.

Als Lake um die Jahrtausendwende seine Karriere begann, hatte sich die Spielebranche noch kaum von den Pixelgrafiken im Mario-Stil zu elementaren 3D-Grafiken entwickelt. Damals waren vollständig animierte Filmsequenzen und bildhaftes Storytelling ressourcenintensiv und schwierig umzusetzen.

„Zu diesem Zeitpunkt waren Videospiele audiovisuell gesehen ziemlich klobig“, sagt er. „Wir konnten uns bemühen, komplexe Geschichten zu erzählen. Jedoch beeinflusste der Mangel an künstlerischer Genauigkeit die emotionale Wirkung, die wir auf den Spieler haben konnten.“

Mit Remedys erstem weltweiten Hit, Max Payne im Jahr 2001, wollte Lake dennoch einen Weg finden, um eine düstere Erzählung für Erwachsene über einen Detektiv zu erfinden, der sich für seine tote Familie rächt. Anstelle einer Animation verwendete das Studio schließlich stilisierte Comicbuch-Panels. Dies war einer von Lakes ersten Vorstößen im Storytelling, das die Grenzen unterschiedlicher Medien mit Bedacht überschreitet – ein Ansatz, den Remedy weiterhin bevorzugt.

„Ich wollte schon immer etwas Neues schaffen und die Branche etwas aufmischen. Für mich beinhaltet dies auch eine Grenzüberschreitung zwischen verschiedenen Kunstformen“, sagt Lake.

Hohes Risiko,
hohe Belohnung

Eine Zeichnung mit drei separaten Bildern und mehreren Sprechblasen zeigt einen Mann, der fernsieht.

Dieses Storyboard zeigt eine Szene aus Max Payne, Remedys erstem Welterfolg aus dem Jahr 2001.
Foto: Remedy Entertainment

Das neueste Spiel des Studios, Alan Wake 2, erzählt die verflochtenen Geschichten des Titelhelden, einem in einer dunklen Albtraum-Dimension gefangenen Autoren, sowie von Saga Anderson, einer FBI-Agentin, die merkwürdige, mit Wakes Verschwinden zusammenhängende Ereignisse untersucht.

Über das traditionelle Action-Gameplay hinaus enthält es 90 Minuten an Videomaterial mit Live-Action, Songs, die zur Handlung des Spiels Stellung beziehen, individuell angefertigter Street-Art und Fotografie, eine choreografierte Musiksequenz sowie Ausschnitte aus zwei unterschiedlichen Romanen.

„Wir arbeiteten sehr hart daran, im Spiel unterschiedliche Ausdrucksformen zusammenzuführen. Sie sind alle miteinander verknüpft, um eine virtuelle Welt zu erschaffen, die zum Wesen der Kunst sowie zu deren Auswirkung auf die Wirklichkeit Stellung nimmt“, sagt Lake.

Obwohl sich die Technologie seit den frühen 2000er-Jahren stark weiterentwickelt hat, hatte das Projekt dennoch seinen Preis. Alan Wake 2 wurde im Oktober 2023 veröffentlicht und gilt als eines der teuersten Kulturproduktionen der finnischen Unterhaltungsgeschichte.

Glücklicherweise reagierten Kritiker und Gamer ähnlich begeistert, wobei das TIME Magazine es im Jahr 2023 als sein Spiel des Jahres bezeichnete. Lake wurde kürzlich selbst zum ersten Finnen, der jemals auf die jährliche Liste der 500 einflussreichsten Menschen der globalen Unterhaltungsindustrie der Zeitschrift Variety aufgenommen worden war – zum großen Teil aufgrund seiner „Neigung zu narrativer Finesse“.

„Das Spiel ist wunderbar angenommen worden, sogar von Menschen, die nicht wirklich spielen. Schon 2010, als der erste Teil von Alan Wake veröffentlicht wurde, hörten wir von Menschen, deren nicht spielende Ehepartner sie nicht alleine spielen lassen wollten, weil sie so sehr in die Geschichte des Spiels vertieft gewesen waren“, sagt Lake.

Interaktion ist alles

Um eine Geschichte in Form eines Videospiels zu erzählen, kann nicht einfach ein Manuskript angefertigt und animiert werden. Ein vielschichtiges, labyrinthartiges Narrativ mit interaktiven Mechanismen des Gameplays zu verknüpfen ist eine Kunst an sich.

„Obwohl Spiele gerade durch Interaktion wirklich interessant werden, ist die Interaktion auch ihr größter Nachteil. Der schwierigste Teil ist, sicherzugehen, dass wir eine Geschichte erzählen, die für die Interaktivität sinnvoll ist“, sagt Molly Maloney, Narrative Designer bei Remedy.

„Ein Schriftsteller könnte mit einer Szene auf mich zukommen, in der zwei Charaktere einen Streit haben, während der Spieler zuschaut. Und das ist kein Spiel, sondern ein Film! Mein Job ist es, auszuarbeiten, wie dem Spieler Handlungsfähigkeit gegeben werden kann“, erklärt sie. Das Berufsbild von Maloney ist innerhalb der Branche noch recht neu, aber sie versteht es als eine natürliche Erweiterung der sich weiterentwickelnden Rolle der Erzählkunst in Spielen.

„Es muss nicht mehr argumentiert werden, dass die Geschichte wichtig ist.

Wir haben jetzt sogar in Fußball- und Rennspielen Geschichtsmodi, weil die Menschen so Rollenspiele spielen können.“

Spiele, die dich zum Weinen bringen

Eine Frau mit runder Brille und runden Ohrringen sitzt auf einem Stuhl und schaut in die Kamera.

„Eines der aufregendsten Dinge beim Konzipieren von Rätseln ist, dass man einige Informationen so verstecken kann, dass sie nur schwer zu finden sind“, sagt die Narrative Designerin Molly Maloney.
Foto: Remedy Entertainment

In den frühen 2010er-Jahren arbeitete Maloney bei Telltale Games, einem amerikanischen Spieleentwicker, der sich ausschließlich narrativen Abenteuererlebnissen widmet. Ihre Spiele basierten hauptsächlich auf beliebten Unterhaltungslizenzen, wie The Walking Dead und Zurück in die Zukunft.

Bei den Arbeiten von Telltale wurden größtenteils die traditionellen Elemente wie Fahren und Kämpfen entfernt und sich stattessen auf moralische Entscheidungen und Charakterbildung konzentriert. Über diesen Ansatz gelang es ihnen, ein breites, untypisches Publikum zu erreichen.

„Sie zeigten den Spielern, dass ein Videospiel einen zum Weinen bringen kann“, sagt Maloney.

Während die Spieler die Handlung der Telltale-Spiele direkt durch ihre Entscheidungen und Handlungen beeinflussen konnten, was zu unterschiedlichen Abenteuern und Ausgängen führte, erzählen viele andere Videospiele Geschichten, die von Anfang bis Ende linear verlaufen. Hier beginnt es, für Maloney und seine Designerkollegen knifflig zu werden.

„Mit einer linearen Geschichte wie Alan Wake 2 müssen wir andere Möglichkeiten finden, um für Handlungsfähigkeit zu sorgen. In diesem Fall geht es darum, die Geschichte von Grund auf zu entwickeln, damit es viel zu entdecken gibt und den Spieler beschäftigt hält.  Rätsel sind hierfür ein gutes Genre.“

In Alan Wake 2 wechselt der Spieler zwischen den Sichtweisen von Wake und Anderson, und viele der Mechanismen des Spiels sind an die Fähigkeiten und Stärken dieser Charaktere gebunden. Als FBI-Agentin Anderson sammelt der Spieler Hinweise und befragt Zeugen. In den Abschnitten von Wake kann der Autor seine Umgebung beim Schreiben physisch beeinflussen und formen.

„Wenn es um Spiele geht, ist beim Entwerfen von Geheimnissen eines der spannendsten Aspekte, dass man einen Teil der Informationen schwer auffindbar machen kann. Natürlich benötigen die Spieler ein Minimum an brauchbarer Erfahrung, um sich von der Geschichte nicht verwirren zu lassen, aber wir können sie für das Erkunden und Ermitteln belohnen“, sagt sie.

Mit anderen Worten: Jeder Spieler erlebt die Geschichte etwas anders. Je mehr man sich anstrengt, in die Welt von Alan Wake 2 – oder sämtlichen anderen Videospielen – einzutauchen, desto mehr nimmt man dabei mit.  Oder mit Maloneys Worten:

„Einen verborgenen Hinweis zu finden oder eine Information zu bekommen, die leicht übersehen werden könnte, gibt den Menschen ein besonderes Gefühl. Bei Videospielen gelingt dies auf eine Art, die Filme, das Fernsehen und Bücher nicht wirklich bieten können, und dies trägt dazu bei, dass sie so einzigartig sind.“

In Finnland gibt es mehr als 230 Game-Studios – inklusive weltweit bekannter Namen wie Rovio, Supercell, RedLynx 
sowie Housemarque. Sie beschäftigen mehr als 4.100 Personen, von denen 30 %
ausländische Mitarbeiter sind. Im Jahr 2022 betrug der Umsatz der finnischen Gaming-Branche 3,2 Milliarden Euro.(Quelle: Neogames, 2023)

Von Johanna Teelahti, ThisisFINLAND Magazine 2024