Bertolt Brecht hat seinerzeit behauptet, dass die Finnen in zwei Sprachen schweigen. Nun, jedenfalls schreiben sie in drei Sprachen – Finnisch, Schwedisch und Saamisch –, und die Gesamtzahl der publizierten Titel ist gewaltig. Jährlich erscheinen in Finnland 13000–14000 Bücher, darunter gut 4500 Novitäten. Nur in Island werden im Verhältnis zur Einwohnerzahl mehr Bücher veröffentlicht.
Auch als Leser sind die Finnen fleißig, was vor allem dem umfassenden und kostenlosen Bibliotheksnetz zu verdanken ist. Der freie Zugang zur Welt des Wissens ist ein wichtiges Gleichberechtigungsprinzip der Kulturpolitik. Die Zahlen sind vielsagend: Durchschnittlich liegt die Anzahl der Ausleihen pro Einwohner bei gut 19 Titeln pro Jahr. Auch für die Schriftsteller ist das Bibliothekswesen wichtig, denn die Bibliotheksstipendien stellen für viele eine wesentliche Einnahmequelle dar.
Die Leseförderung beginnt bereits früh in den Familien; nach einer Untersuchung des Statistischen Zentralamts lesen etwa 70 % der Eltern ihren Kindern regelmäßig vor. Die jüngsten PISA-Untersuchungen bescheinigen den finnischen Schülern hervorragende Leseleistungen, und zu den Lieblingsgestalten der Kinder gehören neben den globalen Disney-Figuren auch Mumin aus den in viele Sprachen übersetzten Büchern von Tove Jansson sowie Risto Räppääjä, dessen Abenteuer mit großem Erfolg verfilmt wurden. Noch eine aussagekräftige Zahl: Jeder dritte Finne liest Monat für Monat Belletristik, und dieser Anteil ist im 21. Jahrhundert stabil geblieben.
Der finnische Markt für E-Books wächst beständig. Auch Verlage, Buchhandlungen und sogar Telekommunikationsunternehmen wie Elisa – hier eine Elisa-Filiale – engagieren sich in diesem Segment.© Elisa
Obwohl die Konkurrenz um die Freizeit der Leser härter geworden ist – Lesen kostet nun einmal Zeit –, hat sich der Absatz belletristischer Werke trotz der Rezession im 21. Jahrhundert kaum verringert; laut der Untersuchung „Finnland liest” aus dem Jahr 2008 kaufen 16 % der Finnen mehr als zehn Bücher pro Jahr. Die Statistiken für 2010 zeigen erstmals einen deutlichen, die Zehnprozentmarke übersteigenden Knick im Gesamtverkauf belletristischer Werke. Das Buch hat jedoch seine Position als hochwertiges Geschenk behauptet, obwohl auch in Finnland der Taschenbuchmarkt expandiert und Neuerscheinungen oft bereits im selben Jahr auch als Taschenbuch herauskommen.
Andererseits haben Lesezirkel, die sozialen Medien und die populären Literaturblogs den Kreis derjenigen vergrößert, die Bücher beurteilen und empfehlen. Die Literatur wird so zum Band zwischen den Menschen.
Neue Wege der Verlagstätigkeit wie E-Book und Print-on-demand haben die Rolle der traditionellen großen Publikumsverlage verändert. In den letzten Jahren wurden in Finnland zahlreiche professionelle Kleinverlage gegründet, die hauptsächlich belletristische Werke und Sachbücher finnischer Autoren sowie eine kleinere Zahl von Übersetzungen veröffentlichen. Deshalb und in Anlehnung an die internationale Entwicklung entstanden auch die ersten Literaturagenturen, die sich um den Verkauf der Übersetzungsrechte in andere Länder bemühen. Bisher war dies Aufgabe der Verlage gewesen.
Übersetzungen des preisgekrönten Romans Puhdistus von Sofi Oksanen sind in fast 40 Ländern erschienen oder in Vorbereitung. Von links: Großbritannien, Deutschland, Schweden, Ungarn, Italien und Island.
Der Verkauf von Übersetzungsrechten wächst: Übersetzungen finnischer Literatur erscheinen heute in einer Größenordnung von rund 200 Titeln pro Jahr in fast 40 Sprachen. Die meisten Titel werden in Deutschland publiziert, gefolgt von Schweden und Estland, den Nachbarn Finnlands, aber es sind zum Beispiel auch zahlreiche Übersetzungen ins Japanische zu verzeichnen. Die Spitze der finnischen Literatur ist breiter geworden, die Übersetzerausbildung und die Verkaufstätigkeit wurden intensiviert. Im Rahmen dieser Entwicklung bereitet FILI, das Export- und Informationszentrum für finnische Literatur, den Auftritt Finnlands als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2014 vor.
Die vorliegende Finfo-Broschüre konzentriert sich vor allem auf die Frage, welche Art von Literatur in Finnland am Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts geschrieben wurde. Und von wem wurde sie geschrieben? Die junge Generation der in den 1970er und 1980er Jahren geborenen, im internationalen Dialog aufgewachsenen Schriftsteller festigt ihre Position. Viele von ihnen schreiben vielseitig über die Gattungsgrenzen hinweg, verfassen Lyrik und Prosa, für Kinder ebenso wie für Erwachsene. Auch Migrantenliteratur ist erschienen. Der Schriftstellerberuf genießt trotz seiner Unsicherheit in Finnland traditionell hohes Ansehen und wird durch ein gutes Stipendiensystem gefördert. Künstlerstipendien werden für einen Zeitraum von sechs Monaten bis fünf Jahren vergeben.
Die Polyphonie der finnischen Gegenwartsliteratur erschallt weithin.
Nina Paavolainen, Journalistin und Produzentin
Links: Der 1870 erschienene Roman Die Sieben Brüder von Aleksis Kivi gilt als der erste bedeutsame Roman in finnischer Sprache.
Rechts: Das finnische Nationalepos Kalevala bildet die Grundlage des populären Comic-Buchs für Kinder Das Kalevala der Hunde von Mauri Kunnas.
Die zeitgenössische Prosa Finnlands braucht am Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts in ihrer Vielfalt den internationalen Vergleich nicht zu scheuen, obwohl die finnische Literatur auf eine verhältnismäßig kurze Geschichte zurückblickt: Die Werke des Nationalschriftstellers Aleksis Kivi, des ersten Meisters der finnischsprachigen Prosa, entstanden in der Zeit der Spätromantik nach 1850, und das von Elias Lönnrot zusammengestellte finnische Nationalepos Kalevala erschien 1835.
Zum Einfluss des Kalevala in der heutigen Zeit kann man sagen, dass seine Mythologie und seine Bildwelt in den kollektiven Vorstellungen der Finnen weiterhin wirksam sind, selbst wenn nicht alle das Epos gelesen haben. Das Buch Koirien Kalevala (Das Kalevala der Hunde, revidierte Ausgabe 2006) des Comic-Künstlers Mauri Kunnas und die für Kinder konzipierte, vereinfachte Fassung des Kalevala (2002, englisch 2009) sind weiterhin ungemein populär. Das Kalevala wurde in mehr als 60 Sprachen übersetzt – und Aleksis Kivis berühmtestes Werk, der Roman Seitsemän veljestä (Die sieben Brüder), ist auch heute noch für viele finnische Schriftsteller Favorit und Vorbild, ein Werk, in dem sich die Spannung zwischen Land und Stadt, zwischen Urkraft und Bildung komprimiert, die den Kern des finnischen Wesens lange geprägt hat.
Wie in anderen Ländern stehen auch in Finnland an der Spitze der Bestsellerlisten Krimis (Matti Yrjänä Joensuu, Leena Lehtolainen), Thriller (Ilkka Remes), epische Familiensagas (Laila Hietamies) und von der chicklit beeinflusste Darstellungen urbaner junger Frauen (Katja Kallio). Ein Novum ist der Bestsellerstatus einer einheimischen Comic-Serie (über die Figuren Viivi und Wagner).
Daneben erscheinen in Finnland zahlreiche anspruchsvolle Prosawerke, die stilistisch und thematisch immer häufiger die Landesgrenzen überschreiten.
Zum historischen Roman
Die finnische Literatur ist seit jeher von einem starken Geschichtsbewusstsein geprägt. In den Jahren des Aufbaus und der nationalen Konsolidierung nach dem Zweiten Weltkrieg fielen der Belletristik ideologische Aufgaben zu, und sie leistete bis in die 1970er Jahre ihren Beitrag zur Diskussion über den Aufbau des Wohlfahrtsstaates. Zuvor schuf Mika Waltari – dessen in der Vergangenheit spielender Roman als Schilderung des geistigen Klimas seiner Entstehungszeit interpretiert wird – 1945 das in Dutzende von Sprachen übersetzte Werk Sinuhe, egyptiläinen(Sinuhe der Ägypter). Der Klassikerstatus dieses Romans beruht weitgehend auf seiner humanen Grundhaltung; Waltari zählt bis heute zu den bekanntesten finnischen Schriftstellern.
Der Roman Puhdistus (2008; dt. Fegefeuer, 2010) von Sofi Oksanen, einer der großen internationalen Erfolge der letzten Jahre, erneuert den historischen Roman. Der finnisch-estnische, mit der jüngeren Geschichte Europas verknüpfte Handlungsrahmen hat selbst in den USA Leser angesprochen, und allein in Finnland wurden über 160 000 Exemplare verkauft.
Für den Publikumserfolg des Buches gibt es viele Erklärungen. Oksanen betrachtet die jüngere Geschichte Estlands, dessen Bevölkerung sprachlich mit den Finnen verwandt ist, aus einem kühnen Einfallswinkel, und ihre Interpretationen der Ereignisse des Zweiten Weltkriegs, der Beziehungen zwischen Eroberer und Erobertem, haben zahlreiche Diskussionen ausgelöst. Helden werden zu Verlierern, und im Krieg büßt jeder etwas ein, nicht zuletzt ein Stück seiner selbst.
Oksanens Erzählweise ist nicht in der realistischen Tradition verankert; sie wird getragen von einem reichen Strom beschreibender und verweilender Verben. Die dezidiert weibliche Perspektive eröffnet den Blick auf Erfahrungen, die selten zum Ausdruck gebracht worden sind. Sie verleiht dem stummen Unwohlsein, von dem niemand hören wollte, eine Stimme; wohl auch aus diesem Grund bietet das Buch eine breite Identifikationsfläche. Die Geschichte dreier Frauengenerationen ist mit Motiven des Nationalismus und des Frauseins angereichert: Der weibliche Körper und die Arbeit der Frauen sind sowohl konkret als auch metaphorisch Werkzeuge in einem Krieg, in dem Unterwerfung, Demütigung und Scham stets präsent sind.
Sofi OksanenFoto: Toni Härkönen
Sofi Oksanen ist auch insofern eine exemplarische Repräsentantin der jungen Autorengeneration, als sie gern ihren Lesern begegnet, häufig ins Ausland reist, um über ihre Arbeit zu sprechen, und bei ihren Auftritten aktuelle Themen aufgreift. Die Medien berichten heute ausgiebiger über die Persönlichkeit der Autoren als über die Literatur selbst, ein Trend, der auch durch die Veränderungen in der Verlagsbranche und durch dramatisch erscheinende Verlagswechsel gespeist wird.
In den letzten Jahren finden sich mehrere Beispiele für die wachsende Vielfalt des historischen Romans, der unter anderem die Konstruktion der finnischen Identität im vergangenen Jahrhundert problematisiert. Ein eindrucksvolles Resultat der Expansion in den Bereich der Mentalgeschichte ist die Trilogie von Jari Järvelä, deren letzter Teil den treffenden Titel Kansallismaisema(Nationallandschaft; 2006) trägt. Der Protagonist ist so alt wie sein Jahrhundert und steht 1938 als 38-Jähriger im Fokus, wenn der Autor sorgsam die qualvolle Entstehung der Einheitskultur schildert.
Jari Tervo, der bereits seit langem zur ersten Garde der finnischen Schriftsteller gehört, hat insbesondere die „einfachen Leute“ in Nordfinnland ausgiebig und ausgesprochen unterhaltsam dargestellt. Seine kurz vor den 2010er Jahren erschienenen Werke, eine Trilogie über die Geschichte Finnlands, bilden chronologisch keine lineare Gesamtheit. Der Ausgangspunkt ist die Zeit des Kalten Krieges, und die Trilogie endet 1920, kurz nach dem finnischen Bürgerkrieg. Sie zeichnet ein neues Bild wichtiger Wendepunkte in der jüngeren Geschichte Finnlands, deren gemeinsamer Nenner Tervos Interpretation zufolge der Kampf gegen den Kommunismus ist.
Leena Parkkinens überzeugendes Debüt Sinun jälkeesi, Max (Nach dir, Max; 2009) erweckt alte Helsinkier Milieus der 1920er Jahre zum Leben, doch den weiteren Referenzrahmen des Romans bildet die europäische Ideenwelt, und seine Problematik ist universal. Die siamesischen Zwillinge Max und Isaac tingeln als Zirkusartisten durch Europa und verkörpern die Thematik der Verschiedenheit, des Andersseins: Wie kann man allein und doch stets Seite an Seite leben?
Hinaus in die Welt
Sucht man nach einem gemeinsamen Nenner für die finnische Literatur der letzten Jahre, so tritt deutlich hervor, dass sich die Prosaisten der jungen mittleren Generation der Welt außerhalb Finnlands zuwenden und mühelos Länder- und Kulturgrenzen überschreiten. Zu beobachten ist auch eine stärkere Verschränkung von Form und Inhalt.
Während in Sofi Oksanens Puhdistus Westestland den Hauptschauplatz bildet, spielt Elina Hirvonens zweiter Roman, Kauimpana kuolemasta (Am weitesten vom Tod entfernt; 2010), im südlich der Sahara gelegenen Teil Afrikas. Als Ich-Erzähler treten im Wechsel der Finne Paul und die Afrikanerin Esther auf.
Katri Lipsons Roman Kosmonautti (Der Kosmonaut; 2008) spielt im Murmansk der 1980er Jahre, also ebenfalls in geographischer und kultureller Ferne. In einer schäbigen sowjetischen Wohnsiedlung träumt ein Schuljunge von einer Zukunft als Kosmonaut und schwärmt zugleich glühend für seine Lehrerin. Lipsons Prosa verweilt mit traumwandlerischer Sicherheit in den Zwischenräumen zwischen den Ereignissen und auf der Grenzfläche der Begegnungen von Menschen; ihre Vorbilder sind am ehesten bei den russischen Klassikern zu suchen.
Kristina Carlsons Herra Darwinin puutarha (Herr Darwins Gärtner; 2009) führt geographisch nach England und behandelt ideengeschichtliche Themen des 19. Jahrhunderts. Der Protagonist ist der Gärtner von Charles Darwin, und das Leben der kleinen Dorfgemeinschaft wird durch wechselnde Subjekte gespiegelt. Carlsons Werk transportiert die elementaren Fragen des modernen Menschen in einen Küchengarten in Kent.
Miikka Nousiainen bereichert die problematischen Beziehungen der Finnen zu ihren westlichen Nachbarn um ein tragikomisches Element in seinem Buch Vadelmavenepakolainen (Der Himbeerbootsflüchtling; 2007), dessen Protagonist von der Zwangsvorstellung besessen ist, Schwede werden zu wollen. Durch befreiendes Lachen reduziert sich die Obsession auf einen schrägen Einfall. Die vielseitige Autorin Johanna Sinisalo konfrontiert in ihrem Roman Linnunaivot (Vogelhirn; 2008) ein junges Paar mit den Naturgewalten in Neuseeland, während Leena Krohns gesamtes, kristallklares Werk sich der philosophischen Essayistik nähert.
Es ist erfreulich, dass auch in Finnland allmählich Migranten zu Wort kommen und das Spektrum der Erfahrungen erweitern. Literaturwettbewerbe erfreuen sich in Finnland traditionell großer Beliebtheit und führen nicht selten zur Entdeckung neuer Talente. Die bei einem Wettbewerb für Migranten ausgezeichnete Slowakin Alexandra Salminen legte inzwischen den beeindruckenden Erstlingsroman 27 eli kuolema tekee taiteilijan (27 oder Der Tod schafft den Künstler; 2010) vor, der zwar kein Migrantenroman im eigentlichen Sinne ist, aber eine neue Perspektive auf die heutige finnische Gesellschaft bietet.
Die Hauptfigur Angie, eine junge Kunststudentin aus Prag, will unbedingt vor ihrem 27. Geburtstag Berühmtheit erlangen – denn in diesem Alter sind ihr Idol Jimi Hendrix und alle anderen ihr wichtigen Künstler gestorben. Mit Unterstützung ihres Professors reist sie nach Finnland und lernt dort in ländlicher Umgebung die unterschiedlichsten Charaktere kennen. Eine der Stärken des Romans ist die souveräne Beherrschung wechselnder Sprachregister und Stilarten – gewürzt mit einer Ironie, die sich über alles gleichermaßen lustig macht. Sogar das Plüschferkel des jüngsten Familienmitglieds kommt zu Wort!
Die Familie, der Alltag und die Geschlechter
In Alexandra Salmelas Roman begegnet eine Familienmutter, die um jeden Preis eine perfekte und bewusste Frau und Mutter sein will – mit bisweilen tragikomischen Folgen. Die Schilderungen der Familie, des Alltags und der Geschlechterrollen sind in den letzten Jahren vielseitiger geworden und stammen sowohl von weiblichen als auch von männlichen Autoren. Die Themen verknüpfen sich mit den sozialen Veränderungen: Die globale Rezession, die Betonung ökonomischer Werte in der öffentlichen Debatte, die zunehmende soziale Ungleichheit in Finnland und die Fragmentarisierung der Werte in der postindustriellen Welt werden in der Prosa der letzten Jahre reflektiert.
Pirkko Saisio, bereits seit langem eine der führenden Gestalten im literarischen Leben Finnlands, analysiert in ihrem jüngsten Roman mit dem treffenden Titel Kohtuuttomuus (Maßlosigkeit; 2008) die heutige finnische Gesellschaft, und Anja Snellman, die ein sensibles Gespür für aktuelle Themen besitzt, schreibt über muslimische junge Mädchen in Finnland (Parvekejumalat [Die Balkongötter]; 2010).
Kari Hotakainens Roman Juoksuhaudantie (2002; dt. Aus dem Leben eines unglücklichen Mannes, 2005) handelt von einem Mann, der, nachdem ihn seine Frau mitsamt der kleinen Tochter verlassen hat, beschließt, ein Eigenheim zu erwerben, um seine Familie zurückzugewinnen. Er hatte zu Hause alles getan, um seine Frau für sich einzunehmen, und ist vollkommen ratlos. Die Konstellation ist urfinnisch: Der Mann beißt die Zähne zusammen und versucht durch praktische Arbeit, wider alle Vernunft, seine Ehekrise zu lösen. Der Roman war in Finnland ungemein erfolgreich, wurde mit dem Skandinavischen Literaturpreis ausgezeichnet und auch verfilmt. In seinem Roman Ihmisen osa (Das Los des Menschen; 2009) schildert Hotakainen die unangenehme Kehrseite des auf Karriere und Status fixierten Leistungszwangs mit seinem ureigenen lakonischen Humor, und auch in diesem Buch ist die Frau und Mutter häufig die eigentliche Hüterin der Vernunft.
Das Buch Totta (Wahr; 2010) von Riikka Pulkkinen ist ein sorgfältig konstruierter Kunstroman, dessen Familiendarstellung teilweise im Zeitbild der 1960er Jahre verankert ist. Eine der Hauptgestalten des Romans ist die Großmutter, die sich als moderne Frau von Anfang an konsequent auf ihre Karriere konzentriert hat. Die anderen Familienmitglieder haben sich ihrer Lebensweise angepasst, deren Auswirkungen auf die Familiendynamik stärker sind als sie ahnt. Das vom Land stammende Kindermädchen der Familie illustriert das Gefälle zwischen Land und Stadt, das in Finnland erst durch die erste große, eben in den 1960er Jahren geborene urbane Generation abgemildert wurde. Zwar steht im Mittelpunkt eine Dreiecksbeziehung, doch Pulkkinen betrachtet zugleich die in den letzten Jahrzehnten eingetretenen sozialen Veränderungen.
Mikko RimminenFoto: Heini Lehväslaiho
Eine der aufwühlendsten Darstellungen einer Frau in mittleren Jahren bietet Mikko Rimminens Buch Nenäpäivä (Nasentag; 2010), das im Erscheinungsjahr auch einen beachtlichen Verkaufserfolg erzielte. Irma, die Protagonistin des Romans, gibt sich als Interviewerin für Wirtschaftsumfragen aus, um Gesellschaft zu haben und Freunde zu finden. Man kann Irma als typische Finnin betrachten, die mehr grübelt als spricht und in ihrer Schüchternheit beinahe abweisend wirkt. Sie ist jedoch ein universaler moderner Mensch, ein verwirrtes und einsames Wesen, das Kontakt zu Anderen sucht. Rimminen gehört der Schriftstellergeneration an, für die die finnische Sprache nicht nur ein Instrument, sondern selbst ein wesentlicher Gegenstand der Reflexion ist; er debütierte als Lyriker.
Markku Nummis Roman Karkkipäivä (Naschtag; 2010) schildert einen entsetzlichen Sozialfall, dessen Leidtragende ein kleines Mädchen ist. In diesem Werk wird eine übermäßig angespannte Frau das Opfer ihrer eigenen Zielsetzungen. Eine zentrale Rolle in Nummis Buch spielt ein junger Familienvater und Drehbuchautor, der sich seiner Rolle im Arbeits- wie im Familienleben ungewiss ist. Die Unsicherheit gegenüber den Erwartungen der Anderen lähmt ihn nahezu.
Nina Paavolainen
Die Brüder Touko (vorn links) und Aleksi (vorn rechts) Siltala vom Verlag Siltala Publishing mit einigen ihrer Autoren: Pirkko Saisio, Leena Lander, Kari Hotakainen und Hannu Raittila.Foto: Laura Malmivaara
Die Brüder Touko und Aleksi Siltala gründeten 2008 den Verlag Siltala (Siltala Publishing), der jährlich rund 25 Titel veröffentlicht; etwas mehr als die Hälfte der Neuerscheinungen sind belletristische Werke, der Rest Sachbücher. Übersetzungen ins Finnische stellen insgesamt ein Viertel der Titel. Beide Brüder verfügen über jahrzehntelange verlegerische Erfahrung. Sie geben Antwort auf einige Fragen zu den allgemeinen Entwicklungstrends in ihrer Branche.
Nina Paavolainen: Wie haben sich die Vorlieben der Leser geändert? Wird mehr finnische Belletristik gelesen als übersetzte?
Touko Siltala: Die Situation hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten erheblich verändert. Der jährliche Gesamtumsatz an Büchern ist ungefähr gleich geblieben, aber früher gab es mehr Raum für übersetzte Literatur. Hochwertige Übersetzungen werden heute weniger gelesen. Der Verkauf wird stärker durch Publizität gelenkt als durch die Literaturkritik, und die Tatsache, dass die Medien sich für einheimische Autoren interessieren und häufig über sie berichten, hat großen Einfluss auf den Verkauf. Frauenzeitschriften und andere Illustrierte bringen umfangreiche Artikel über finnische Autorinnen und Autoren.
Aleksi Siltala: Es werden ja heute auch viele finnische Bücher verfilmt; Optionen auf die Filmrechte werden häufig innerhalb kurzer Zeit vergeben. Das kann ebenfalls dazu beitragen, dass einheimische Autoren auf Interesse stoßen.
NP: Und welche Arten von Sachbüchern werden in Finnland publiziert, was verkauft sich?
AS: Die Finnen haben sich immer schon für politische Geschichte interessiert, insbesondere für die Geschichte Finnlands und der benachbarten Regionen, wie unter anderem der Erfolg von Sofi Oksanen beweist. Die Anzahl der Leser, die sich mit diesen Themen beschäftigen, scheint eine stabile Größe zu sein. Viele junge Leute kennen zum Beispiel die Sowjetunion nicht und sind fasziniert von der Zeit des Kalten Krieges. Eine Reihe wichtiger Persönlichkeiten des vorigen Jahrhunderts, etwa der langjährige Staatspräsident Urho Kekkonen und Marschall Mannerheim, wecken immer noch Interesse. Andererseits würde ich sagen, dass auch die ältere Geschichte Finnlands heute mehr Resonanz findet. Auch die Perspektive erweitert sich allmählich, zum Beispiel steigt die Nachfrage nach Sachbüchern über China.
NP: In den letzten Jahren haben zahlreiche Schriftsteller den Verlag gewechselt, während früher eine nahezu absolute Verlagstreue bestand. Ist diese Entwicklung eher auf die Veränderungen in der Verlagsbranche zurückzuführen oder auf einen Wandel in der Einstellung der Autoren?
TS: Die in den 1960er und 1970er Jahren geborenen Schriftsteller haben eine ganz andere Auffassung von der Beziehung zwischen Autor und Verlag. Natürlich liegt ihnen an einem anständigen Lektorat, aber sie verlangen auch eine sorgfältige Planung des Marketings und der Öffentlichkeitsarbeit. Der Verkauf von Übersetzungsrechten spielt ebenfalls eine Rolle, aber das Wichtigste ist der direkte und unmittelbare Kontakt. Bei den Autoren, die zum Beispiel in den 1970er Jahren debütiert haben, ist eine ganz andere Einstellung zu beobachten: die Beziehung zwischen Verleger und Autor war eine Art Ehe, was vor allem Betreuung und ausreichende Vorschüsse bedeutete. Dass Schriftsteller heute unter Umständen in mehreren Verlagen publizieren, ist positiv. Unabhängigkeit ist für Künstler von Vorteil.
AS: Ansprechbarkeit und Präsenz sind wichtig. Viele Autoren wünschen sich eine Art Boutique-Verlag, der ihnen guten Service und schnelle Antworten und Entscheidungen bietet.
NP: Sie haben auch jahrzehntelange Erfahrung mit internationalen Buchmessen und kennen die Branche im Ausland. Haben Sie den Eindruck, dass das Interesse für die finnische Literatur gewachsen ist?
TS: Es ist erheblich gewachsen. Dazu haben natürlich finnische Erfolgsautoren wie Arto Paasilinna und jetzt Sofi Oksanen beigetragen, aber auch die Tatsache, dass Skandinavien als geographische Region bekannter geworden ist. Die ausländischen Kollegen sind neugierig auf die finnische Literatur, fragen nach neuen Namen und nach Ansichten über preisgekrönte Autoren – das gab es früher nicht. Heute erscheint es durchaus möglich, dass ein finnischer Autor wirklich ein heißer Tipp sein kann.
AS: Sobald man sich auf einer Messe über die Neuerscheinungen ausgetauscht hat, erkundigen sich ausländische Verleger heute oft sehr ernsthaft nach finnischen Autoren. Das Interesse ist ehrlich, und es ist in den letzten Jahren enorm gestiegen. Der Erfolg der skandinavischen Krimis hat auch anderen Werken das Tor geöffnet.
Lebendige Dichtung: Rund zweihundert Gedichtbände werden jedes Jahr in Finnland veröffentlicht.
Innerhalb der finnischen Gegenwartsliteratur tritt zurzeit die erfreulich vitale und kraftvolle Lyrik besonders hervor. Jährlich erscheinen nahezu zweihundert Gedichtbände, in Relation zur Größe der finnischsprachigen Leserschaft eine außerordentlich hohe Zahl. Neben den alten Verlagshäusern veröffentlichen auch kleine Verlage und verschiedene Lyrikkollektive bedeutsame Sammlungen. Die Book-on-demand-Technik und die digitalen Umgebungen im weiteren Sinne machen gerade die Publikation gemeinschaftlicher Gedichtbände finanziell möglich.
Die Finnen sind schon von ihren sprachlichen Wurzeln her „Gedichtmenschen“, und leicht melancholische Lieder sind bekannte Ausdrucksformen des finnischen Selbstbildes. Es ist keineswegs weit hergeholt, die Volksdichtung im Kalevala-Versmaß, die noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Bauernstuben singend vorgetragen wurde, als Grundlage vieler Formen der Gemeinschaftlichkeit zu betrachten, die sich die Gegenwartslyrik zu eigen gemacht hat. Aus den steifen, festlichen Rezitationsabenden der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sind im Lauf von hundert Jahren vor allem bei jungen Menschen beliebte Lyriksessions oder „Jams“ geworden; vorgetragene, gesungene und multimedial präsentierte Dichtung wird bei den Poetry Slams sichtbar und hörbar.
Die Dichter unternehmen auch Tourneen im ganzen Land und lesen aus ihren Werken. So ziehen zum Beispiel die Auftritte von Heli Laaksonen, die im Dialekt von Laitila schreibt, immer wieder ein großes Publikum an, und auch ihre Gedichtbände erreichen Auflagen von mehreren zehntausend Exemplaren.
Der Dichtung widmet sich heute auch das Fernsehen mit der populären, seit Jahren etablierten Sendung Runoraati (Gedichtjury). Das Format der Sendung ist genuin finnisch und absolut unik. Dichter präsentieren ihre neuesten Texte in Form von sorgfältig gestalteten Gedichtvideos, und eine Laienjury mit wechselnden Mitgliedern analysiert das Gehörte und Gesehene und vergibt in spielerischem Sinn Punkte. Eine bessere Methode, neue, wenig verbreitete Literatur einem großen Publikum bekannt zu machen, ist kaum vorstellbar.
Der Lyrikboom des 21. Jahrhunderts macht sichtbar, dass die Dichtung in Finnland nach wie vor gerade die jüngste schreibende und lesende Generation anzieht. In gewisser Weise ist sie zudem eine „Einstiegsgattung“ in den Literaturbetrieb; die jüngsten – heute also die in den 1980er Jahren geborenen – Schriftsteller debütieren häufig mit Gedichten. Später wenden viele von ihnen sich auch anderen Gattungen zu, und es ist keineswegs außergewöhnlich, dass Autoren der verschiedensten Generationen sowohl Prosa als auch Lyrik schreiben.
Die Genretypen der Gegenwartslyrik veranschaulichen die Tatsache, dass die aktivsten, in den 1970er und 1980er Jahren geborenen Dichter eine mit der Informationstechnologie aufgewachsene Generation repräsentieren. Verschiedene durch das Internet ermöglichte Techniken und digitale Plattformen dienen als Ausgangspunkt der Dichtung, und mit Hilfe von Suchmaschinen wird beispielsweise das auch in der bildenden Kunst bekannte Konzept des „Objet trouvé“ verwendet. Browser sammeln in den Sprech- und Sprachwelten des Internets Material, das die Dichter weiterverarbeiten. Zu den am materiellen Charakter der Sprache interessierten Lyrikern zählen Henriikka Tavi, Teemu Manninen und Harry Salmenniemi.
Es versteht sich, dass viele Dichtungsbegriffe der modernistischen Tradition von den Autoren des 21. Jahrhunderts auf die Probe gestellt wurden. Tatsächlich distanzierte sich bereits die junge Generation der 1990er Jahre deutlich vom Geist des reinen Modernismus der 1950er Jahre: Schon bei Helena Sinervo, Jyrki Kiiskinen, Jukka Koskelainen, Tomi Kontio und Riina Katajavuori kündigten sich die Bestrebungen der Gegenwartslyrik an, die Tradition, ihre Form, ihre Bildsprache und ihren Subjektbegriff in Frage zu stellen. Deutlich zu erkennen war in ihrer Generation auch das Streben, Dichtungsbegriffe zur Diskussion zu stellen und Gemeinschaften zu bilden, in denen die jüngste Lyrikergeneration heute aktiv ist.
Im 21. Jahrhundert werden die Debatten bereits überwiegend im Internet geführt. Zwar erscheinen in Finnland niveauvolle Literaturzeitschriften, doch die interessantesten und innovativsten Diskussionen findet man zweifellos in den Blogs der Webseiten verschiedener Schriftsteller und Kritiker; die besten der dort publizierten Beiträge dürfen von ihrer Substanz her als anspruchsvolle Essayistik gelten.
Saila SusiluotoFoto: Pekka Holmström
ADie von amerikanischen Vorbildern beeinflusste Konkrete Poesie und der Poststrukturalismus waren Inspirationsquellen für zahlreiche Lyriker der jüngsten Generation. Dennoch nähern sich viele Autoren des 21. Jahrhunderts auch den wieder neu hervortretenden Ausdrucksformen des Modernismus an, und so herrscht zur Zeit im Bereich der Dichtung eine von intensiven Diskussionen begleitete, positive Zersplitterung.
Die Sprache ist also nicht das einzige „Thema” der Lyrik; diese befasst sich vielmehr mit zahlreichen Fragestellungen der postmodernen Welt und Lebensweise aus der Sicht des Individuums. Beispielsweise ist die alles durchdringende visuelle Gegenwartskultur ein Motiv der Gedichte von Eino Santanen, der sich kritisch mit der Art und Weise auseinandersetzt, wie die Medien und die Werbesprache sich als unmittelbare Fortsetzung unserer Sinne etablieren.
Eine interessante Perspektive auf die Dichtung des 21. Jahrhunderts eröffnet auch die von jungen Frauen verfasste Lyrik, in der das Verhältnis zum eigenen biologischen Geschlecht und beispielsweise zur Mutterschaft abweichend von der Tradition der weiblichen Geschichtsschreibung bejahend betrachtet wird. Noch in den 1980er Jahren waren die Frauendarstellungen in der finnischen Literatur geprägt von der biologischen Bürde des anderen Geschlechts und von Klagen; heute dagegen schreiben Saila Susiluoto, Johanna Venho, Vilja-Tuulia Huotarinen und Juuli Niemi auf der Basis einer starken weiblichen Identität über das Dasein als Mädchen und Frau. Bereits der Titel der Gedichtsammlung von Huotarinen, ‘Iloisen lehmän runot’ (‘Die Gedichte der fröhlichen Kuh’, 2009), zeigt, dass auch das Lachen der Frauen zur finnischen Lyrik des 21. Jahrhunderts gehört.
Mervi Kantokorpi
Camera Obscura von Johanna Holmström handelt von jungen Öko-Terroristinnen und spielt in Helsinki, Glitterscenen (The Glitter Scene, rechts) von Monika Fagerholm wiederum ist eine Fortsetzung von Das amerikanische Mädchen (Mitte). Fagerholm ist eine der meistübersetzten finnischen Autorinnen.
Literatur, die in Finnland auf Schwedisch geschrieben wird, führt ein ganz eigenes Leben: nur wenige der etwa 200 Bücher, die pro Jahr erscheinen, werden ins Finnische übersetzt und noch weniger erreichen den Buchmarkt in Schweden. Belletristik wird von einer Handvoll Verlage veröffentlicht, Sachbücher finden zahlreiche andere Kanäle, sowohl professionelle Verlage als auch lokale Vereinigungen nehmen sich ihrer an.
Eine Literatur, die für ca. 300.000 Menschen (etwa 6% der Bevölkerung Finnlands) geschrieben wird, ist nur sehr selten so erfolgreich, dass die Verlage damit viel Geld verdienen können. Sie sind deshalb auf den Verkauf von Schulbüchern und Lehrmitteln angewiesen und auf die Unterstützung von privaten Stiftungen, die zusammen über sehr viel mehr Geld verfügen als die Nobelstiftung. Für die privaten Stiftungen ist es selbstverständlich, die Literatur zu unterstützen, die von einer Minderheit für eine Minderheit geschrieben wird: die Literatur bildet zusammen mit den schwedischsprachigen Radio- und Fernsehkanälen und der großen Zahl von Tageszeitungen das Fundament, auf dem sich die Sprache der Minderheit entwickeln kann – sie ist der Kitt, der sie zusammenhält.
Eine kleine Literatur lässt sich also in soziologischen Begriffen zusammenfassen. Aber es muss noch andere Faktoren geben, damit eine Literatur am Leben bleibt. Sie muss eine Aura um sich haben, ein Selbstverständnis, das immer wieder neue Generationen verlockt, sie künstlerisch zu gestalten. Es folgen einige Charakteristika, die sie von der Majoritätsliteratur in Schweden und Finnland unterscheiden und die nach wie vor lebendige Tradition sind.
Das lustvolle Experiment
Es gibt viele, die in den 1910er und 1920er Jahren das goldene Zeitalter der finnlandschwedischen Literatur sehen. Sie ließ sich von experimentellen Strömungen andernorts in Osteuropa inspirieren und Edith Södergran, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in St. Petersburg mehrsprachig aufwuchs, schuf eine nietzscheanische und leidenschaftliche Dichtung ohne feste Formen.
Gleichzeitig führte sie eine Androgynität ein: „Ich bin ein Neutrum, ein Page, ein kühner Entschluss“, ein Ausruf, der bei den jüngeren Schriftstellerinnen des 21.Jahrhunderts immer noch seinen Widerhall findet. Monika Fagerholm (geb. 1961) führte mit ihrem Roman Diva eine zeitgenössische und grenzüberschreitende kühne Mädchengestalt in die finnlandschwedische Literatur ein. Sie schrieb über ein Mädchen, das sich nimmt, was es braucht, sprachlich und handelnd, das sich nicht von Konventionen fesseln lässt.
Ähnlich junge und kühne Frauengestalten mit einem grenzüberschreitenden Habitus findet man beispielsweise bei Hannele Mikaela Taivassalo Fem knivar hade Andrej Krapl, (Fünf Messer hatte Andrej Krapl, 2007), Catharina Gripenberg På diabilden är mitt huvud proppfullt av lycka (Auf dem Diabild ist mein Kopf voller Glück, 1999) und Ta min hand, det vore underligt, (Nimm meine Hand, das wäre seltsam, 2007). Eva-Stina Byggmästar (z.B. Glädjetrilogin, Die Freudentrilogie 1992-1997), Ulrika Nielsen Mellan Linn och Sand ( 2006 ) und Mikaela Strömberg De vackra kusinerna (Die schönen Kusinen 2008).
Prägend für diese Bücher ist die ästhetisch anspruchsvolle Form, sowohl in Erzählungen als auch Gedichten: realistische Markierungen sind selten, Handlungszusammenhänge unausgesprochen, die Zeitebenen verschlingen sich und die Haltung ist frech neugierig.
Wenn man diese Bücher liest, wird man in eine ganz eigene Welt mit ganz eigenen Gesetzen versetzt, starke Gefühle sind in die Texte verwoben, die auf eigenartige Weise auch beim Leser starke Gefühle wecken.
Hannele Mikaela TaivassaloFoto: Cata Portin
Das Fehlen von Verbrechen und Liebe
Trotz einer starken expressiven, emotionalen Tradition in der ganzen modernen finnlandschwedischen Literatur gibt es einen auffallenden Mangel an etablierten Genres für die Literatur, die Emotionen weckt. In der finnlandschwedischen Literatur findet man selten Mord, Sex oder Liebe; üblicher Stoff in jeder Literatur überall auf der Welt. Die Krimiliteratur nimmt in der schwedischsprachigen Literatur in Finnland minimalen Raum ein, Sexschilderungen liest man einmal im Jahrzehnt und nicht einmal Beziehungs- und Liebesromane sind ein etabliertes Genre.
Es ist also nicht verwunderlich, dass einer der beiden großen finnlandschwedischen Verlage im Jahr 2011 einen Romanwettbewerb ausschreibt, mit dem man explizit nach Romanen mit einer „Intrige“ sucht, und dass die Redaktion in einem Interview vorsichtig darauf hinweist, dass ein Roman mehr ist als ein sprachlich avanciertes Kunstwerk und er durchaus eine interessante Handlung haben kann.
Kjell WestöFoto: Katja Lösönen
Einfacher ausgedrückt: der Verlag braucht Autoren, die Bücher für große Auflagen schreiben können, nur sehr wenige finnlandschwedische Autoren können sich zu den Bestsellerautoren zählen. Der einzige Autor, der in den letzten zehn Jahren regelmäßig die Begeisterung der Kritik und der Leser wecken konnte, ist Kjell Westö (geb. 1961), und man kann es verstehen: Er bewegt sich nahe an der Realität, baut lange Erzählbögen und Spannungsfelder zwischen den Personen, und er hat einen speziellen Tonfall, der die Leser von Buch zu Buch bei der Stange hält.
Für viele Leser ist er der Chronist der Veränderungen in der Hauptstadt Helsinki im 20. Jahrhundert. Andere Autoren, die ebenfalls seit vielen Jahren sowohl Kritiker als auch Leser fesseln, sind Ulla-Lena Lundberg (geb. 1947) und Lars Sund (geb. 1953). Sie bewegen sich im frühen 20. Jahrhundert und fördern schmerzliche Punkte der gesellschaftlichen Entwicklungen zutage und schaffen dabei Charaktere, die dem Leser ans Herz wachsen.
Diese drei gehören neben Monika Fagerholm zu den Schriftstellern, die in jedem beliebigen Land gelesen werden können. Monika Fagerholm ist übrigens die erste finnlandschwedische Autorin, die den renommierten August-Preis des schwedischen Buchmarkts gewonnen hat und die von Oprah Winfrey empfohlen wurde. Sie gehört zu den am meisten übersetzten Autoren der zeitgenössischen finnlandschwedischen Literatur.
Ein Leben neben der Realität
Der finnlandschwedischen Literatur ist oft ein Mangel an Realismus vorgeworfen worden, wofür auch der Roman-Wettbewerb von 2011 ein deutliches Zeichen ist. (Beim letzten Wettbewerb suchte man übrigens Krimis, eine ständige Mangelware für alle Leser, die unbedingt Spannung und Tod haben wollen). Aber zu Beginn der 2010er Jahre zeigt sich allmählich ein neues Phänomen; Texte, die das Experiment mit dem Realismus kombinieren.
Ein paar Schriftsteller der jüngeren Generation haben nämlich begonnen, hybride Texte zu schreiben, in denen ein klarer Realismus sich plötzlich und unerwartet für übernatürliche Phänomene öffnet. Schauerromantik, mittelalterliche Kreaturen und Gespenster dringen in Studentenbuden, Stadtwohnungen und auf Kreuzfahrtschiffe ein. Zu den stärksten jungen Stimmen gehört Johanna Holmström (geb. 1981), die in dem Novellenroman Camera Obscura(2009) junge Öko-Terroristen in Helsinki schildert, und die Geschichte in eine Besessenheit hinübergleiten lässt, die an archaische Vorstellungen grenzt; der Wolf ist ein wiederkehrendes Motiv, das Tier, das einen schmerzlich und gefährlich anzieht. Stefan Nymans Debutroman (Anna är online, Anna ist online 2008) liefert auch eine stringente Schilderung des Studentenlebens mit Beziehungen zwischen jungen Menschen, und gleichzeitig bringen schwarze Dohlen Nachrichten aus Edgar Allan Poes Horror-Menagerie oder den Ängsten und der Grenzenlosigkeit eines fragilen Geistes.
Auch bei Jugendbuchautoren, die in den letzten Jahrzehnten recht selten hervortraten, zeichnen sich die gleichen Risse ab zwischen dem Greifbaren und einer Welt jenseits der Sphären des Rationellen. Henrika Andersson (geb. 1965) und Maria Turtschaninoff (geb. 1977) haben Bücher geschrieben, in denen doppelte Wirklichkeiten ineinander greifen. Die jungen Protagonisten bekommen Nachrichten aus einer unerklärlichen Welt, sie kontrastieren die Realität durch Gestalten, die aus einer langen folkloristischen Tradition stammen.
Die Bücher spiegeln vielleicht den globalen Phantasyboom wider, aber irgendwie sind sie auch ein sehr natürlicher Beitrag zur Welt von Tove Jansson, ihrem von Trollen bevölkerten Mumintal und den sanften Geschichten der Grande Dame Irmelin Sandman Lilius (geb. 1936) über kleine Städte mit kleinen Menschen, die zu einer diffusen Zeit erstaunliche Dinge erleben.
Realismus ist gewiss nicht das Wort, das man der finnlandschwedischen Belletristik anheften könnte – aber das ist vielleicht gerade die paradoxe Stärke der Minderheitsliteratur: sie erschafft eigene Welten; universelle Welten, die von einem heimlichen Fanclub mit Mitgliedern von Uruguay bis Japan sehr geliebt werden.
Maria Antas, Projektkoordinatorin und Kritikerin
Verband der finnischen Sachbuchautoren
Books from Finland
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Verband finnischer Schriftsteller
Verband der finnlandschwedischen Schriftsteller in Finland
Publiziert März 2011