Wie Finnland nach dem Bürgerkrieg 1918 einen Weg zur Versöhnung fand

Vor etwas mehr als einem Jahrhundert erlebte die gerade unabhängig gewordene finnische Nation einen kurzen, aber brutalen Bürgerkrieg. Obwohl der Konflikt tiefe Narben hinterließ, half eine Kultur der Zusammenarbeit ehemaligen Widersachern bei der Versöhnung und ermöglichte es dem Land, relativ rasche Fortschritte im Aufbau des Staates zu erzielen.

Am 6. Dezember 1917 verabschiedete das finnische Parlament eine Unabhängigkeitserklärung. Doch schon davor hatten sich bewaffnete „Sicherheits-“Gruppen gebildet, die später als Weiße und Rote bezeichnet werden sollten.

Die Weißen waren politisch konservativ, während die Roten mit der Arbeiterbewegung liiert waren. Die seit langem bestehenden Auseinandersetzungen zwischen den beiden Lagern bedeuteten, dass der Weg in die Zukunft für die neue Nation auch nach der Unabhängigkeit nicht sicher war.

Der Bürgerkrieg dauerte vom 27. Januar bis zum 15. Mai 1918. Von den rund 36.600 Toten starben n etwa 9.700 durch Hinrichtungen und 13.400 aufgrund der entsetzlichen Bedingungen in den Straflagern. Bei den Roten lag die Zahl der Opfer um sechs zu eins höher als bei den Weißen.

Die politische Aussöhnung begann fast unmittelbar nach Ende des Krieges. Doch die kulturelle und soziale Versöhnung sollte länger dauern.

Übergang zu einer integrativeren Republik

Der weiße General C.G.E. Mannerheim führt am 16. Mai 1918 auf der Esplanade in Helsinki eine Parade zu Ehren des Bürgerkriegsendes an.Foto: cc by 4.0/ Helsinkier Stadtmuseum

Die Weißen waren die Sieger. Sie hatten ihre Hoffnungen auf eine Monarchie mit starken Verbindungen zu Deutschland gesetzt, aber die Niederlage dieses Landes im Ersten Weltkrieg setzte dem Denkmodell ein Ende. Finnland wählte im Juli 1919 eine republikanische Verfassung.

„Man kann nur schwer davon sprechen, dass die Republikaner eher zu Kompromissen bereit waren, hatten doch viele von ihnen ein harsches Vorgehen gegen die Rotgardisten unterstützt“, sagt Jason Lavery, unbefristeter Lehrbeauftragter an der Universität Helsinki und Professor für Geschichte an der Oklahoma State University. „Aber diejenigen, die eine Republik wollten, betrachteten sie als eine integrativere Form der Regierung sowohl für die gemäßigte Linke als auch für die Monarchisten.“

Finnlands erster Präsident, K.J. Ståhlberg, glaubte an die Aussöhnung, begnadigte die roten Häftlinge und erlaubte den Gewerkschaften, ein Gesetz auszuhandeln und zu unterzeichnen, dass Pächtern gestattete, ihre Landwirtschaftsbetriebe zu vorteilhaften Preisen zu kaufen.

„Ståhlberg bemühte sich darum, das Land zu vereinen, aber innerhalb des durch den antimarxistischen Konsens gesetzten Rahmens“, so Lavery.

Nachkriegsmäßigung

Helsinkis Inselfestung Suomenlinna, heute ein UNESCO-Weltkulturerbe und Touristenmagnet, war Anfang 1918 der Ort eines Gefangenenlagers, in dem Gefangene der roten Seite einsaßen.Foto: Niilo Toivonen/cc by 4.0/ Finnische Denkmalschutzbehörde

Die gemäßigte Nationale Fortschrittspartei und der Finnische Landbund unterstützten in den ersten Jahren der Unabhängigkeit einen Kompromiss und Schritte zur Aussöhnung. Die extreme Linke wurde vom politischen Prozess ausgeschlossen, die Sozialdemokraten waren hingegen in der Lokalpolitik willkommen und wurden dann unter der Führung von Väinö Tanner sogar die größte Partei im Parlament.

„Tanner hat getan, was er konnte“, meint Lavery. „Als Ministerpräsident nahm er 1927 bei der jährlichen Parade zum Gedenken an das Ende des Krieges den Gruß des Schutzkorps entgegen, der freiwilligen Miliz, die einen Großteil der Weißen Armee bildete.“ Der General der Weißen, C.G.E. Mannerheim, hatte eine Tradition eingeführt, am 16. Mai zu Ehren des Bürgerkriegsendes eine jährliche Parade abzuhalten.

Tanners Annahme des Grußes war besonders bezeichnend, weil das bürgerliche Schutzkorps wegen seiner Rolle bei den Massenhinrichtungen von der Linken „Schlächter“ genannt worden war. Als Teile des weißen Schutzkorps und einer Gruppe, die sich Lapua-Bewegung nannte, 1932 einen rechten Putschversuch unternahmen, stießen sie bei der Mehrheit der Finnen auf Ablehnung und der Aufstand scheiterte innerhalb weniger Tage.

Die späten 1930er Jahre waren eine Phase relativen wirtschaftlichen Wohlstands und anhaltender sozialer Reformen, die zu einer starken Demokratie und einem starken parlamentarischen System beitrugen.

Menschen zusammenführen

Miina Sillanpää, die für ihre Fähigkeit bekannt wurde, mit Parteien mit entgegengesetzten Standpunkten ins Gespräch zu kommen, hält 1907 eine Rede als Parlamentsabgeordnete.Foto: J. Indursky/cc by 4.0/ Finnische Denkmalschutzbehörde

Auch eine Politikerin bestimmte die Zukunft des Landes mit, Miina Sillanpää, die als Brückenbauerin galt und der es gelang, Parteien mit gegensätzlichen Standpunkten zusammenzubringen. Sie gehörte zu den ersten Frauen – 19 waren es insgesamt –, die 1907 ins Parlament gewählt wurden, nachdem Frauen 1906 das aktive und passive Wahlrecht erhalten hatten. Während des Bürgerkrieges setzte sie sich für Waisenkinder ein, von denen es viele – nach einigen Schätzungen 15.000 – gab.

In Tanners Regierung (13. Dezember 1926 – 17. Dezember 1927) war sie die zweite Ministerin für soziale Angelegenheiten und stellte damit die erste weibliche Kabinettministerin in Finnland dar. Sie kam aus der Arbeiterklasse und trug dazu bei, soziale Themen wie bessere Arbeitsbedingungen für Hausangestellte und andere Arbeiter sowie Unterkünfte für Waisen und unverheiratete Mütter voranzutreiben. Tarja Halonen, Finnlands Präsidentin von 2000 bis 2012, urteilte über Sillanpää, sie könne „als eine der Mütter des Wohlfahrtsstaates“ gelten.

Sportidole, allen voran Langstreckenläufer Paavo Nurmi, trugen ebenfalls dazu bei, alle Finnen für ein gemeinsames Ziel zu begeistern. In drei Olympischen Spielen zwischen 1920 und 1928 gewann er sage und schreibe 12 olympische Medaillen, neun Gold und drei Silber.

Zusammenrücken im Winterkrieg

Rekruten aus Vihanti, etwa 600 Kilometer nördlich von Helsinki, sitzen im Winterkrieg 1939-1940 während einer Kampfpause im nahe der Ostgrenze gelegenen Suomussalmi. Der Winterkrieg wurde anders als der Bürgerkrieg zum unverkennbar einigenden Krieg.Foto: cc by 4.0/Finnisches Kriegszeit-Fotoarchiv

1939 griff die Sowjetunion Finnland an, womit der sogenannte Winterkrieg begann, der vom 30. November 1939 bis zum 13. März 1940 dauerte und alle Teile der finnischen Gesellschaft zur Verteidigung ihres Landes vereinte.

„Der Winterkrieg war anders als der Bürgerkrieg eindeutig ein heroischer Kampf der nationalen Befreiung. Er stellte Finnlands erste große kollektive Leistung dar“, sagt Lavery.

Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen willigten ein zu verhandeln und zusammenzuarbeiten. Die Sozialdemokraten ermutigten ihre Mitglieder, dem Schutzkorps beizutreten. Oberbefehlshaber Mannerheim löste die jährliche Parade zum Gedenken an den Sieg der Weißen auf und ersetzte sie durch einen Gedenktag für die Gefallenen. Die Finnen waren bereit, für eine gemeinsame Sache zusammenzurücken.

„Man muss auch die Ereignisse nach dem Zweiten Weltkrieg erwähnen“, meint Lavery. „Dazu gehören die Legalisierung der finnischen Kommunistischen Partei, der Aufbau des allgemeinen Wohlfahrtsstaates und die Kunst und Wissenschaft, die die Ereignisse von 1918 porträtierten.“

Mit der Versöhnung ist nie ganz Schluss

Zahlreiche Teile Finnlands wurden durch den Bürgerkrieg verwüstet. Im April 1918 standen nur noch Schornsteine in Tammela, eine Gegend in der südwestlichen Stadt Tampere.Foto: cc by nd 4.0/Vapriikki Fotoarchiv/Tampere-Museum

Eines der bedeutendsten literarischen Werke, das den Bürgerkrieg behandelt, ist Väinö Linnas Trilogie „Kreuze in Karelien“, die 1959, 1960 und 1962 erschien. Mitfühlend erkundet sie die Motive der Roten und beschreibt unbeirrt, was in der Nachkriegszeit passiert ist.

Es fand eine kulturelle Aussöhnung statt, auf die Finnland schon lange gewartet hatte, aber der Versöhnungsprozess ist nie zu Ende. „Bürgerkriege sind häufig nie ganz vorüber“, sagt Lavery.

Selbst heute ist Mannerheim noch eine trennende Persönlichkeit. Das Wort „Schlächter“ wird desweilen auf seine Statuen gesprayt, während wiederum das Mannerheim-Museum, wenn es auf den Bürgerkrieg verweist, den vorbelasteten Begriff „Befreiungskrieg“ verwendet.
Eine 2016 durchgeführte Umfrage der finnischen Rundfunkanstalt YLE legt dar, wie tief der Krieg die Menschen berührt hat. Fast ein Jahrhundert nach Ende des Bürgerkriegs erklärten 22 Prozent der Befragten, dass dies in ihren Familien immer noch ein „hochsensibles“ Thema sei.

Dennoch weiß die finnische Gesellschaft den Prozess von Recht, Demokratie und der Zusammenarbeit für das Gemeinwohl zu schätzen. Dies hat dazu beigetragen, die Narben des Bürgerkriegs so weit wie möglich zu heilen.

„Es hat Jahrzehnte gedauert, bis der Demokratie voll vertraut wurde“, erklärte Finnlands Präsident Sauli Niinistö in einer Rede am 1. Januar 2018. „Der partizipatorische Patriotismus war geboren.“

Eine Lehre, die aus dem Bürgerkrieg gezogen wurde, so Niinistö, sei, dass „es Vielfalt gibt, dass Menschen unterschiedliche Backgrounds, Überzeugungen und Ziele haben, und uns das Recht zusteht, anderer Meinung zu sein. Wir müssen imstande sein, so etwas zu respektieren, auch wenn wir anders denken.“

Von David J. Cord, Mai 2018

Teilweise Quellenliste, die für den Artikel herangezogen wurde (auf Englisch)

  • Risto Alapuro, “The Legacy of the Civil War of 1918 in Finland”, in After Civil War: Division, Reconstruction, and Reconciliation in Contemporary Europe (University of Pennsylvania Press, 2015)
  • Osmo Jussila, Seppo Hentilä und Jukka Nevakivi; From Grand Duchy to a Modern State: A Political History of Finland since 1809 (Hurst & Company, 1999)
  • Jason Lavery, The History of Finland (Greenwood Press, 2006)
  • J.E.O. Screen, Mannerheim: The Finnish Years (Hurst & Company, 2000)
  • Finnisches Staatsarchiv: , “Causes of war death 1918 according to the political affiliation of the killed persons”
  • Webseite der Miina- Sillapää -Gesellschaft (auf Finnisch)
  • Finnlands öffentliche Rundfunkanstalt YLE: “Finns remember Civil War, ‘Red’ and ‘White’ resentment lingers”, („Die Finnen gedenken des Bürgerkriegs, die Ressentiments von ‚Rot‘ ‚und, ‚Weiß‘ leben fort“)
  • Rede von Präsident Sauli Niinistö, January 1, 2018