Der finnisch-amerikanische Designer Ervin Latimer kreiert inklusive Mode

Der finnisch-amerikanische Designer Ervin Latimer glaubt, dass sich die Mode – nicht die Menschen – verändern müsse. Er designt für eine Vielzahl von Körpern und Geschlechtern. Latimers kompromisslose Designphilosophie hat auf bedeutenden Modewochen, wie der Copenhagen Fashion Week sowie Pitti Uomo, für Furore gesorgt.

Modedesigner Ervin Latimer scheint sich problemlos zwischen Haute Couture und Massenmarkt zu bewegen. Er präsentiert seine Kleidung auf renommierten internationalen Modewochen und entwirft gleichzeitig Kleidungsstücke für eine finnische Hypermarkt-Kette. Er mag zwar eine Modeschau in einem leuchtend roten Drag-Outfit veranstalten, hält sich aber für pragmatisch. Seine Kollektionen wurden in der Vogue vorgestellt, aber es ist ihm egal, wer seine Designs trägt.

Latimers Kleidungstücke ähneln den Silhouetten traditioneller Herrenmode, wie zweiteilige Anzüge und Button-up-Hemden, die jedoch so konzipiert wurden, dass sie ungeachtet des Geschlechts, der Körperform oder der Identität des Trägers getragen werden können. Durch kleine Kniffe lassen sich die Kleidungsstücke an unterschiedliche Körper und Anlässe anpassen.

„Ich entwerfe Kleidung, die Maskulinität repräsentiert. Sie ist aber für kein bestimmtes Geschlecht gedacht, sondern für Menschen, die Maskulinität ausdrücken oder darstellen möchten“, sagt er.

Dies bringt uns zum Hauptgrundsatz von Latimers Design-Philosophie: Er ist in erster Linie ein wertorientierter Designer. Er engagiert sich für Gleichstellung der Geschlechter und Gerechtigkeit, Inklusion, Antirassismus und queere Kultur, allesamt auch wichtige Teile seiner Identität, als homosexueller Sohn einer finnischen Mutter sowie eines afrikanisch-amerikanischen Vaters.

„Designer haben viel Macht. Wir teilen unsere Visionen darüber, wie Menschen und deren Körper aussehen sollten und wie sie sich selbst ausdrücken können oder nicht. Ich fühle eine gewisse Verantwortung, eine inklusive und gerechte Vision zu schaffen“, sagt Latimer.

Er möchte, dass die Menschen, die neugierig auf ihre maskuline Seite sind, seine Kleidungsstücke anschauen und denken, oh, ich kann mir vorstellen, das selbst zu tragen. Das passt zu mir. Außerdem wünscht er sich, dass seine Kleidung gleichermaßen für das Sitzen im Bus oder in der Limousine tragbar ist.

Die Karriere entsprang der Suche nach dem eigenen Weg

Der finnisch-amerikanische Modedesigner Ervin Latimer spricht über seine Designideologie (gefilmt im Paimio-Sanatorium, einem architektonischen Meisterwerk von Alvar und Aino Aalto aus dem Jahr 1933).Video: ThisisFINLAND

Latimers Marke Latimmier erwuchs aus der Suche des Designers nach seinem Platz in der Gesellschaft und aus seinem Wunsch heraus, sich selbst und seine Werte in der ihn umgebenden Welt repräsentiert zu sehen. Es habe schon immer marginalisierte Gruppen von Menschen gegeben, und das sei auch heute noch so, die nicht so sichtbar seien wie andere, sagt Latimer. Mit der Gründung einer Kreativmarke wollte er sich in der Reihe von weniger repräsentierten Kreativen in diesem Land positionieren und herausfinden, welche Form Finnischtum für ihn annehmen würde.

Es war nie Latimers Kindheitstraum,  Modedesigner zu werden. Jedoch schaute er schon in jungen Jahren seiner Tante beim mühelosen Stricken von Pullovern und ihrer Großmutter beim Basteln zu.  Er lernte visuelle Kunst am Gymnasium, wo er sich in den upgecycelten Kleidungsstücken, die er auf Flohmärkten kaufte, nicht fehl am Platz fühlte.

Er arbeitete im Einzelhandel, während er Modedesign an einer Hochschule für angewandte Wissenschaften studierte, und schloss schließlich mit dem Master im angesehenen Modedesign-Programm der Aalto-Universität ab. Außerdem war er Mitbegründer und Chefredakteur von Ruskeat Tytöt Media, Finnlands erstem Kulturträger für Schwarze, Indigene und Farbige (BIPOC).

Ein Mann in modischem Anzug sitzt auf einem Stuhl, stützt sich auf eine Armlehne und schaut in die Kamera.

Foto: Mikael Niemi

Start mit Paukenschlag

Latimer erinnert sich an das erste Mal, als er von den finnischen Medien interviewt wurde. Kurz nach der Präsentation seiner Abschlusskollektion wurde ihm der Titel Titel „Finnischer Nachwuchsdesigner des Jahres“ verliehen, ein Preis, der seit den 1990er-Jahren jährlich an vielversprechende Designstudenten vergeben wird.

Latimer übertrug sein eigenes Markenzeichen auf das Thema des Wettbewerbs: Multifunktionalität. Er nutzte die neugegründete Plattform, um branchenrelevante Themen hervorheben, die er angehen wollte.

„Normalerweise muss sich ein Körper an ein Kleidungsstück anpassen. Man muss eine bestimmte Form oder Größe vorweisen, um in ein bestimmtes Kleidungsstück zu passen. Was wäre, wenn es genau umgekehrt wäre? Was wäre, wenn sich ein Kleidungsstück an den Körper einer Person anpassen könnte?“

Also entwarf er anpassbare, wendbare und geschlechtsneutrale Kleidung – ästhetisch und sorgfältig geschneidert und dennoch tragbar und zugänglich.

Im Januar 2022 wurde die Marke Latimmier mit Erfolg bei Pitti Uomo eingeführt, dem führenden Event für Herrenmode in Florenz, Italien. Latimer ging als sein Dragqueen-Alter-Ego Anna Konda, auf die Bühne, um seine Kollektion vorzustellen.

Die übergroßen Anzüge mit vorsätzlichen Schlitzen und Spalten sollten mit dem Konzept von Männlichkeit spielen.Sie wurden von Models mit unterschiedlichen Geschlechtern, Körperformen und sexuellen Identitäten getragen. Unter anderem berichtete die New York Times über die Show sowie deren Wurzeln in der Drag-Kultur. Ervin Latimer war offiziell angekommen.

Praktiziere, was du predigst

Ein blaues Gewand ist auf einem Stuhl derart arrangiert, als würde das Kleidungsstück dort sitzen.

Von den Seiten der Vogue bis zu einem finnischen Hypermarkt: Ervin Latimer entwirft Kleidung, die sich für fast alle Körperformen, Geschlechter oder Anlässe eignet.
Foto: Mikael Niemi

Außerhalb des Rampenlichts hat Latimer viel Zeit damit verbracht, darüber nachzudenken, wie er die Existenz einer weiteren Kleidermarke rechtfertigen könne. Die Welt benötige nicht noch mehr Textilien, stimmt er zu. Was sie jedoch benötige, seien faire Arbeitsplätze, nachhaltige Arbeitsbedingungen sowie frischen Wind in einer Industrie, die auf Exklusivität und Einschränkungen basiert. Mit anderen Worten: Er nutzt seine Fähigkeiten als Designer dazu, um einen positiven Sinneswandel zu bewirken.

„Ich würde gerne beleuchten, was hinter verschlossenen Türen in Unternehmensvorständen und Führungsteams passiert. Wer hat das Sagen und wer profitiert? Wer bekommt die Möglichkeit, zu arbeiten und warum? Wenn die visuellen Markenelemente sehr inklusiv sind, aber das Unternehmen selbst es nicht ist, dann ist dies nicht sehr nachhaltig“, sagt er.

Latimer praktiziert das, was er predigt. Kürzlich entwarf er eine geschlechtsneutrale Kollektion für K-Citymarket, eine Hypermarktkette des finnischen Einzelhandelsriesen Kesko. Es war das erste Mal in ihrer Geschichte, dass die Kette geschlechtsneutrale Kleidung verkaufte.

Mit der Freedom-Kollektion hat Latimer das getan, wozu er stets neigt: Sie durchbrach die Norm. Die Kleidungsstücke fühlen sich nach Designerkleidung an (schicke Button-up-Hemden, luxuriöse Loungewear), sind jedoch auf alle Arten von Körpern zugeschnitten. Die Kollektion wurde von einem diversen Team vorgeführt sowie fotografiert, und einige Druckmuster waren vom finnisch-guineischen queeren Künstler, Gabby Electra, entworfen worden. Die Kleidungsstücke wurden in Europa hergestellt.

„Keskos Umfrage zufolge kauft jeder zweite Finne gelegentlich Kleidung in einem Hypermarkt. Wenn man das Verhalten und die Einstellungen der Verbraucher beeinflussen möchte, dann muss man an jenen Orten vertreten sein, an denen eingekauft wird.“

Nie wieder Burnout

In einer Nahaufnahme lächelt ein Mann in einem modischen Hemd und Anzug geringfügig in die Kamera.

Foto: Mikael Niemi

Ervin Latimer ist zudem ein unüberhörbarer Verfechter humaner Arbeitsbedingungen. Er selbst durchlebte ein Burnout und möchte sich und auch niemand anderen überbelasten.

„Ich habe Glück, dass ich diese Arbeit zu meinen Bedingungen tun kann, aber manchmal werde ich dadurch geblendet: Ich vergesse meine Grenzen. Ich habe das auf die harte Tour gelernt, aber ich möchte keine Kompromisse machen, wenn es ums Ausruhen geht. Letztendlich bin ich nur ein Mensch“, sagt er.

Seine Angestellten werden fair vergütet. Wenn dies nicht möglich ist, dann stellt er keine Praktikanten ein. Diese Dinge mögen für Laien eventuell selbstverständlich klingen. In der Modebranche sind sie aber nicht sehr weitverbreitet.

„Ich habe Praktika gemacht und Junior-Positionen in großen Modehäusern eingenommen und gesehen, wie rücksichtslos es zugehen kann. Ich habe die Chance, anders zu handeln. Viele traditionelle Marken sprechen unentwegt darüber, ein besseres Morgen zu schaffen. Warum bis morgen warten, wenn man heute etwas verbessern kann?“

Sesshaft werden in dem Land, das er sein Zuhause nennt

Eine Person läuft im obersten Stockwerk eines Gebäudes eine Terrasse entlang, den Hintergrund bilden Baumkronen.

Sanatorium in Paimio. Genau wie Latimer glaubten auch die Architekten Alvar und Aino Aalto daran, dass herausragendes Design für alle zugänglich sein sollte.
Foto: Mikael Niemi

Latimer ist sich nicht sicher, ob er sagen darf, ob er seinen Platz in der Designlandschaft schon gefunden hat. Jetzt ist er Mitte Dreißig, seine Marke ist jung und im Augenblick wünscht er sich, dass er das, was er im Moment tut, noch lange Zeit weitermachen kann – auf eine Art, die mehrfach nachhaltig ist.

Ein Grund, warum Latimer sein Heimatland Finnland so sehr liebt, ist dessen Infrastruktur, die ihm das Leben oft erleichtert. Er hat unter anderem in den Vereinigten Staaten und Italien gelebt sowie gearbeitet und er genießt die großen Städte und die Chancen dort. Am meisten schätzt er hier jedoch die kleinen Dinge: die Zuverlässigkeit und Zweckmäßigkeit.

„Selbst an jenen Freitagen, an denen ich nach einer langen Arbeitswoche am Ende bin, kann ich mich stets darauf verlassen, dass der Bus pünktlich ist und mich nach Hause bringt.“

Text Kristiina Ella Markkanen, ThisisFINLAND Magazine